Dieter Nuhr im Interview | Adidas und die Mieten
 

Gabor Steingart - Das Morning Briefing
30.03.2020
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Guten Morgen Wolf Manuel Schröter,

das Coronavirus frisst sich durch die Gesellschaft. Die Regierung regiert, die Opposition schweigt, das Leben entschleunigt und entleert sich. Ungefragt erhalten wir eine Einführung in den zeitgenössischen Surrealismus. Die Gedanken suchen verzweifelt nach einer Struktur und enden stets aufs Neue im Fragment.

Erstens: Eine Regierung, die nicht genügend Schutzbekleidung, Atemmasken, Desinfektionsmittel und Einreisebarrieren organisieren kann, verordnet dem Land das Maximale. Auch in der Hoffnung, das Strikte und Autoritäre möge das Versäumnis vergessen machen. Offensichtlich sind die Handydaten der Bürger schneller besorgt als die Atemmasken.

Zweitens: Um den Zusammenbruch des Gesundheitssystems zu verhindern, wird der Zusammenbruch der Wirtschaft ausgelöst. Das Ifo-Institut prognostiziert, dass jede zusätzliche Woche Shutdown ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) kosten würde, also rund 35 Milliarden Euro. Im schlimmsten Fall sinkt die Wirtschaftsleistung um 20 Prozent. Eine derartig tiefe Wirtschaftskrise hätte Deutschland noch nie erlebt.

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Drittens: Eine Folgenabschätzung in Bezug auf die privaten Wohlstandsverluste, aber auch mit Blick auf den Anstieg häuslicher Gewalt, den nicht unwahrscheinlichen Anstieg der Suizide und die Verelendung des Dienstleistungsproletariats gibt es nicht. Das Land befindet sich im Sinkflug – und es ist unklar, ob sich da unten eine Landebahn befindet.

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Viertens: Die Geldflutungspolitiker aller Nationen sind zu neuem Leben erwacht. Der ehemalige Präsident der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, empfiehlt den ins Trudeln geratenen Staaten eine Extradosis Kredit. In der „Financial Times“  schreibt er:  
Der Einkommensverlust des Privatsektors muss ganz oder teilweise in die Staatsbilanzen aufgenommen werden. Eine viel höhere Staatsverschuldung wird fester Bestandteil unserer Volkswirtschaften sein und mit einem privaten Schuldenerlass einhergehen.

Wir lernen: Die Welt wird nach Corona neu gebaut. Und wahrscheinlich wieder als Kartenhaus.

Fünftens: Der liberale Geist leidet. Im Schnellverfahren wurden elementare Freiheitsrechte – die Versammlungsfreiheit, die Bewegungsfreiheit, die Gewerbe- und Dienstleistungsfreiheit, die Freiheit der Verfügung über das eigene Eigentum – eingeschränkt. Es handelt sich um den massivsten Eingriff in die Bürgerrechte seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Keine dieser Beschränkung besitzt bisher ein Verfallsdatum. Kurt Kister, scheidender Chefredakteur der „Süddeutschen Zeitung“ schreibt : „Bei zu viel ,Schutz‘ ist die Freiheit selbst gefährdet.“
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Sechstens: Alle ökonomischen Sinne melden Alarmstufe Rot: Einmal mehr ist Deutschland abgelenkt von der eigentlichen Hauptaufgabe, nämlich den Sprung vom Industriezeitalter in das digitale Zeitalter zu organisieren. Ein Land, das mit seinen Produkten und Dienstleistungen das vergangene Jahrhundert hat prägen können, befindet sich im strukturellen Abstieg, mit allem, was das für die Zukunftsperspektive von Kindern und Enkeln bedeutet. Die konzertierte Gegenwehr unterbleibt, weil die multiplen Krisen – Finanzkrise, Griechenland-Krise, Euro-Krise, Flüchtlingskrise, Krim-Krise und nun Corona-Krise – einer planlosen politischen Elite immer neue Vorwände liefern, keinen eigenständigen Zukunftsplan zu entwickeln. Nicht jetzt! Vielleicht später! Wahrscheinlich nie. 

Siebtens: Politik und Medien haben sich – knapp der Klima-Apokalypse entronnen – in ein neues Dystopia hineingesteigert. Die über 900.000 Sterbefälle, die dieses Land pro Jahr zu verzeichnen hat, darunter 120.000 tabakbedingte Todesfälle, 9.200 Suizide, knapp 3000 Verkehrstote – verschwinden hinter den Corona-Toten auf Nimmerwiedersehen. Eine politische Führung, die sich kein Tabakwerbeverbot zutraut, sich nicht zu einer menschenfreundlichen Verkehrspolitik und zur Nachhaltigkeit in der Ernährungskette durchringen kann, schützt scheinbar Leben, aber in Wahrheit camoufliert sie ihren politischen Opportunismus. Sie bedient die Panik der Saison mit dem Soundtrack der permanenten Gegenwart. Deutschland wird mit dem Rücken zur Zukunft regiert.

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Fazit: Wir leben in einer Welt der Paradoxien. Die Politik der Ausgangs- und Kontaktsperren ist richtig und schmerzhaft zugleich. Der Kredit gebende Staat lindert die Krise und breitet die nächst größere vor. Inmitten der ökonomischen Entschleunigung steht Deutschland unter einem nie da gewesenen Stress. Pandemie bekämpfen oder Wirtschaft öffnen? Spätestens nach Ostern wird die Regierung beides zugleich versuchen müssen. Wer dauerhaft die Volkswirtschaft gegen die Volksgesundheit ausspielt, wird beides beschädigen.

 
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Dieter Nuhr ist einer der erfolgreichsten Kabarettisten Deutschlands. Seit über 30 Jahren steht er auf den Bühnen dieses Landes, seit Langem auch in seiner eigenen ARD-Sendung „Nuhr im Ersten“. Nichts ist sicher vor seiner Satire: weder der Islam, noch die AfD, weder Greta Thunberg, noch die einstige Grünen-Chefin Jutta Ditfurth, die an Covid-19 erkrankt ist und nun via Twitter um Spenden bittet.

Wie erlebt einer wie Dieter Nuhr das Meinungsklima in Zeiten von Corona? Darüber habe ich mit ihm im Morning Briefing Podcast gesprochen. Über die neue und politische Bedeutung von Virologen, sagt er:

Wenn eine Berufsgruppe plötzlich die Oberhand gewinnt, dann werde ich persönlich sehr misstrauisch.“

Nuhr spricht vom herrschenden „Virologiat“, das er als politisch übergriffig empfindet:
Ich finde, auch Polizisten sollten zum Beispiel nicht über alles entscheiden. Ich habe großes Vertrauen zu unserer Polizei und bin auch sehr froh, dass wir so eine Polizei haben, wie wir sie haben. Trotzdem glaube ich, dass Polizisten überall Räuber sehen, und Ärzte sehen überall Kranke und Psychologen überall Irre.
Die ökonomische Lage - auch die im Kulturleben- empfindet er als bedrückend:
Es gibt jetzt jede Menge Menschen da draußen, denen der Arsch auf Grundeis geht, die nicht mehr wissen, wovon sie ihre Miete im nächsten Monat bezahlen sollen. Denen muss geholfen werden.“

Über die Gesellschaft und jene Menschen, die ein Zusammenbrechen der Weltwirtschaft und der Globalisierung willkommen heißen, sagt Nuhr:

Diese unendliche Naivität wird unendlich viele Menschenleben kosten, wenn wir nicht frühzeitig anfangen, diese naiven Diskussionen zu unterbinden und die Leute auf den Teppich der Realität zurückzuholen. Dieser Teppich ist kleiner geworden und er geht zum Teil nicht einmal mehr bis in die Feuilleton-Redaktionen unserer großen Tageszeitungen.

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In dem Moment, in dem die Menschen keine Luft mehr bekommen, seien Freiheitsrechte zunächst zweitrangig, glaubt Nuhr. Doch er rät zu erhöhter Wachsamkeit:

Wir müssen ganz wache Augen haben, dass der Zugriff des Staates auf unser Privatleben nicht zum Gewohnheitsrecht wird.

 
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Erstens: Bekannte Unternehmen, zum Beispiel Adidas, haben die Mietzahlungen für ihre Filialen hierzulande eingestellt, nachdem diese wegen der Coronavirus-Ausbreitung schließen mussten. Adidas-Chef Kasper Rorsted stellte nun klar, sein Konzern werde privaten Vermietern seiner Läden unverändert die Miete zahlen. Der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung sagte er: „Nur im Ausnahmefall sind unsere Vermieter Privatpersonen; wir haben sie ausgenommen, sie werden ihre April-Miete wie gewohnt erhalten.“ Die meisten der eigenen Geschäfte wurden aber von großen Immobilienvermarktern und Versicherungsfonds angemietet. Diese hätten für den vorläufigen (und vom Gesetzgeber erlaubten) Mietzahlungsstopp „überwiegend Verständnis gezeigt“. Stand heute Morgen hat sich Adidas mit acht der 16 verbleibenden Eigentümer auf eine Mietreduzierung geeinigt.

Zweitens: Die Wirtschaftsweisen stellen heute ihr Sondergutachten vor. Darin werden die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise sowie Maßnahmen zur Eindämmung wirtschaftlicher Schäden diskutiert. 

Drittens: Am Donnerstag verkündet der Europäische Gerichtshof sein Urteil zur Umverteilung von Asylbewerbern in Europa. Um die Ankunftsländer Italien und Griechenland zu entlasten, hatten die EU-Staaten 2015 die Umverteilung von bis zu 160.000 Asylsuchenden beschlossen. Tschechien, Ungarn und Polen weigerten sich allerdings, den Beschluss umzusetzen. Die EU-Kommission klagte daraufhin gegen die drei Länder.

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Viertens: Die USA haben weltweit mit 142.000 gemeldeten Fällen die meisten Corona-Infizierten; die Zahl der Toten ist auf über 2.500 gestiegen. Der Bundesstaat New York gilt in den Vereinigten Staaten als Hot-Spot der Krise. Dort sind 776 Menschen an den Folgen des Virus gestorben. Donald Trump gab heute Nacht bekannt, dass der Shutdown der US-Ökonomie nicht wie zuerst angedeutet aufgehoben, sondern verlängert wird.

Fünftens: Ab heute können Solo-Selbstständige und Kleinunternehmer staatliche Soforthilfen beantragen. Unternehmen mit bis zu fünf Beschäftigten können einmalig bis zu 9000 Euro, Unternehmen mit bis zu zehn Beschäftigten einmalig bis zu 15.000 Euro bekommen. Der Bund hat insgesamt 50 Milliarden Euro bereitgestellt, um kleine Betriebe zu unterstützen. Heute Morgen werden nicht T-Shirts, Handtaschen und Waschmaschinen verkauft, sondern Anträge gestellt. Los gehts!

Ich wünsche Ihnen einen guten Start in diese Woche, auch wenn es eine schwierige wird. Es grüßt Sie auf das Herzlichste Ihr


Gabor Steingart
Journalist & Buchautor
 
 
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Die neue Folge des Podcasts „Wall Street Weekly“ ist online. Börsen-Reporterin Sophie Schimansky geht der Frage nach, inwiefern aus der Virus-Krise eine Schuldenkrise werden könnte.
 
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Dr. Daniel Stelter begrüßt Sie in einer Folge von „Beyond the Obvious“ mit einem Corona-Update.
 
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