Merz tritt an | Bundestag: nur bedingt reformfähig
 

Gabor Steingart - Das Morning Briefing
25.02.2020
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Guten Morgen Gregor Hochreiter,
im modernen Kapitalismus lässt sich aus allem ein Geschäft machen - auch aus der Lust der Bürger an der politischen Erregung. Dieses Geschäft ist einträglich, ohne nachhaltig zu sein, wie Peter Sloterdijk in seinem Essay „Die nehmende Hand und die gebende Seite“ zu Recht anmerkt:
Debatten enden hierzulande in der Regel damit, dass das Publikum seine von den Medien permanent umworbene Aufregungsbereitschaft nach kurzer Zeit anderen Themen zur Verfügung stellt. Am Ende siegt regelmäßig die Erschöpfung über das Lernen.“

Von diesem Zyklus aus Erregung und Erschöpfung profitieren die Finanzpolitiker aller Nationen. Die Hemmungslosigkeit, mit der sie die nationalen Budgets in die Verschuldung treiben, sorgt regelmäßig für einen medialen Aufschrei, bevor sodann die allgemeine Verstummung einsetzt.

Nach dem Platzen von Internet- (2000) und Immobilienblase (2007), nach Lehman-Pleite und Euro-Krise ist die Welt dem Kreditrausch verfallen, der durch die Null- und Niedrigzinspolitik von Amerikanern, Japanern und Europäern ständig befeuert wird. Hier der jüngste Schadensbericht, der es nahezu nirgendwo auf die Titelseiten schaffte:

► In diesem Jahr werden die weltweiten Staatsschulden laut Standard & Poor’s einen Rekordwert von 53 Billionen US-Dollar erreichen – 30 Prozent mehr als noch 2015. Der Abhängige erhöht die Dosis.

► Nach wie vor haben die USA mit 17,7 Billionen US-Dollar (siehe Grafik) den absolut höchsten Stand an kommerziellen Schuldtiteln. Bei den Japanern sieht es nicht wesentlich besser aus. Kreditsüchtige unter sich.

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Großbritannien wird laut S&P Ende 2020 einen Schuldenberg von rund 2,9 Billionen Dollar aufgetürmt haben. Die staatlichen Schulden Chinas werden zum Stichtag 2,7 Billionen Dollar betragen, Deutschlands Schulden fallen mit 1,3 Billionen Dollar fast schon moderat aus. Unter den Süchtigen ist der Gewohnheitstrinker der König.

► Die Zentralbanken Fed, EZB und Bank of Japan mahnen nicht wie früher zur Solidität, sondern heizen das Lotterleben mit ihren Anleihekaufprogrammen an.

► Die Sparer werden durch die Abschaffung des Zinses arm, aber die Investoren an den Spieltischen der Weltbörsen feiern ihre Orgien. Der Dow Jones hat seit der Finanzkrise um fast 160 Prozent zugelegt, der Dax um rund 100 Prozent (siehe Grafik).
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Fazit: Im Boom der Finanzmärkte spiegelt sich nicht die Realwirtschaft, sondern der vorsätzliche Wahnsinn der Geldpolitik. „Rufen Sie zu einer Revolution des Bewusstseins auf?“, wurde Sloterdijk gefragt. Seine Antwort fiel vornehm und dennoch deutlich aus:
Der Ruf liegt in den Verhältnissen. Die Weltlage übermittelt die Botschaft.“
 
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dpa
 

Friedrich Merz will nun offiziell CDU-Chef werden, wenn möglich auch Kanzlerkandidat. Auf eine Teamlösung wartet er nicht. Der 64-jährige Wirtschaftsanwalt wird sich heute um 11 Uhr den Fragen der Hauptstadtpresse stellen.

Nach einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag der Deutschen Presseagentur sprechen sich 18 Prozent der Befragten dafür aus, dass Merz die Union in den nächsten Bundestagswahlkampf führt. Auf Platz zwei liegt CSU-Chef Markus Söder mit 12 Prozent. Dahinter folgen Röttgen (11 Prozent), der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet (9 Prozent) und Gesundheitsminister Jens Spahn (7 Prozent). Besonders bitter für alle Politiker: 43 Prozent wollten sich für keinen der Genannten entscheiden.

Die CDU, die zu ihren besten Zeiten die Nachfolgefragen im Hinterzimmer entschied und dem Parteitag nur noch zum Abnicken vorlegte, erlebt die Qualen der Demokratie. Wolfgang Mocker, einst Autor des Satiremagazins „Eulenspiegel“, wusste warum:

Es ist leichter, eine Entscheidung zu treffen, wenn man keine Wahl hat.“
 
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dpa
 
Die FDP ist bei der Bürgerschaftswahl in Hamburg nun doch an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert. Nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis kommen die Freidemokraten auf 4,9 Prozent und verpassen so den Einzug ins Landesparlament. Bei der Wahl vor fünf Jahren holte die FDP noch 7,4 Prozent.

Dieser Absturz wird intern Parteichef Christian Lindner angelastet. Selbst das kurz vor den Wahlen mit Freundin Franca Lehfeldt in Amsterdam verbrachte Wochenende nimmt man ihm nun übel. Er hätte lieber Wahlkampf machen sollen, heißt es. Das Getuschel hat begonnen, der Autoritätsverfall auch. „Die Schattenjahre“, so der Titel seines letzten Buches, wird zurzeit neu verfilmt.
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Instagram/ Christian Lindner
 
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Der Deutsche Bundestag entwickelt sich zum Volkskongress. Nach China (2975 Abgeordnete) besitzt Deutschland (709 Abgeordnete) das zweitgrößte Parlament der Welt, gefolgt von der Volksversammlung der Nordkoreaner mit 678 Sitzen.

Sollte der Gesetzgeber sich nicht bis zum Sommer bescheiden und das Wahlrecht reformieren, droht 2021 ein Rekordparlament mit bis zu 1000 Abgeordneten. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat bereits Container anmieten lassen, weil die Büroräume nicht ausreichen werden.

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Grundübel ist eine deutsche Neigung zur demokratischen Perfektion, die sich in einer komplizierten Überhangs- und Ausgleichsmechanik niederschlägt.

Für den Steuerzahler ist der wachsende Bundestag ein teures Unterfangen. Die Kosten für den Bundestag belaufen sich im aktuellen Haushalt auf mehr als eine Milliarde Euro pro Jahr. Davon entfallen 80 Millionen Euro auf die Diäten für die Abgeordneten, hinzu kommt die steuerfreie Kostenpauschale (Zweitwohnungen etc.) in Höhe von 37 Millionen Euro und die Versorgungsleistungen (Hinterbliebenenrente, Altersversorgung) von 46 Millionen Euro pro Jahr.

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dpa
 
Der Wille der Abgeordneten, sich selbst zu schrumpfen, ist gering ausgeprägt. Die Unterscheidung von Erst- und Zweitstimme wird hoch geschätzt. Vor allem von jenen, die in ihren Wahlkreisen keine Chance haben und die Absicherung auf der Parteiliste brauchen, die in bierseligen Ortsvereinssitzungen erstritten wird. Jeder zweite Bundestagsabgeordnete verdankt seinen Platz der Liste und nicht dem direkten Bürgervotum.

Im Morning Briefing Podcast  erklärt die Düsseldorfer Rechtswissenschaftlerin und Wahlrechtsexpertin Sophie Schönberger, wie es dazu kommen konnte.
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Der parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion Stefan Ruppert skizziert einen Ausweg aus dem Dilemma und mahnt seine Kollegen zur Reform :
Der Bürger darf nicht den Eindruck gewinnen: Bei sich selbst kriegen die nichts hin.“
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Donald Trump bekam gestern eine Show ganz nach seinem Geschmack – er musste dafür nur nach Indien reisen.
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dpa
 

Vor 100.000 Menschen und begleitet von Tanz- und Showeinlagen eröffnete er im westindischen Ahmedabad das größte Cricket-Stadion der Welt. Im Beisein von Premier Modi sprach der US-Präsident über die indisch-amerikanische Freundschaft:

Amerika liebt Indien, Amerika respektiert Indien und Amerika wird immer ein treuer und loyaler Freund für die Menschen in Indien sein.“
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Jenseits der TV-Bilder wurde eine neue handelspolitische Achse geschmiedet:

► Schon jetzt ist Indien mit seinen 1,35 Milliarden Einwohnern das zweitgrößte Land hinter der Volksrepublik China. Laut IWF wird sich dieses Verhältnis in den kommenden Jahren umdrehen (siehe Grafik).

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► Seit 2015 legte das Bruttoinlandsprodukt Indiens um 40 Prozent zu – die chinesische Volkswirtschaft wuchs um nur 26 Prozent. Indien ist bereits die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt. Würden die G-7-Staaten sich neu sortieren – an Indien wäre kein Vorbeikommen mehr. 

Militärisch wird bereits aufgerüstet: Dafür verspricht Trump den Indern die Lieferung der „besten und am meisten gefürchteten Waffen“. Einen Deal über drei Milliarden Dollar wollen die Parteien heute unterzeichnen.

Fazit: Die Abkehr Trumps von der Welt findet nur in deutschen Zeitungen satt. In Wahrheit schmiedet der US-Präsident neue Allianzen und formt einen britisch-japanisch-indisch-amerikanischen Block, der etwa 37 Prozent des Weltsozialprodukts, 24 Prozent der Weltbevölkerung und die Mehrzahl aller verfügbaren Atomraketen besitzt. 

 
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dpa
 

Durch den Coronavirus-Ausbruch in Italien mit rund 230 Infizierten und sieben Toten ist die Epidemie  näher an Deutschland herangerückt. Gesundheitsminister Jens Spahn sagte:

Wir müssen damit rechnen, dass sie sich auch in Deutschland ausbreiten kann. Ein Virus macht an der Landesgrenze nicht halt.“

Optimistische Signale sendet ausgerechnet die Weltgesundheitsorganisation: Es sei sehr ermutigend, dass die Fallzahlen in China zurückgingen, sagte der zuständige WHO-Generaldirektor. Die Ausbreitung des Virus könne noch gestoppt werden.

 
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YouTube/Hulu
 

Als Politikerin ist sie Geschichte, als Filmheldin aber lebt sie ein zweites Leben: „Hillary“ heißt die Dokuserie , die aus 1700 Stunden Filmmaterial das tragische Leben der Hillary Clinton erzählt und nun im Rahmen der Berlinale vorgestellt wurde.

Tragik eins: Ihr Mann ist ein notorischer Fremdgeher, was ihm im Jahr 1998 ein Amtsenthebungsverfahren einbrachte – und die Ehe vor schwerste Herausforderungen stellte.

Tragik zwei: Russische Stellen mischten sich, das gilt heute als erwiesen, in den US-Wahlkampf ein und stellten Hillary Clinton durch die Offenlegung all ihrer E-Mails bloß.

Tragik drei: Sie holte im Präsidentschaftswahlkampf 2016 fast drei Millionen mehr Stimmen als Donald Trump, aber zu wenige Wahlmänner. Sie gewann, er siegte.

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dpa
 
Im Gespräch mit Filmemacherin Nanette Burstein sagt sie, dass sie mit der Dokumentation einen vollständigen Blick auf ihre Person geben will:
Ich konnte schlecht nur über die positiven Seiten sprechen. Das wäre lächerlich gewesen.“
Was bleibt? Hillary Clinton die Kämpferin, die Frau mit dem Löwenherz, die mit dieser Dokumentation Millionen junger Frauen ermuntern will, ebenfalls mutig zu sein und aufzustehen:
Du willst einen Unterschied machen? Du willst Einfluss haben? Dann musst du in die Wettkampfarena.“
Ich wünsche Ihnen einen selbstbewussten Start in diesen Tag. Es grüßt Sie herzlichst Ihr

Gabor Steingart
Journalist & Buchautor
 
 
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Die neue Folge unseres Podcasts „Wall Street Weekly“ ist online. Börsen-Reporterin Sophie Schimansky schaut dieses Mal auf zwei Milliardäre, die den Markt für Raumfahrttechnik aufmischen.
 
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Der Ökonom Dr. Daniel Stelter analysiert in der neuen Folge seines Podcasts „Beyond the Obvious“ die Wirtschaftspolitik von US-Präsident Donald Trump.
 
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