Merkel im Homeoffice | USA vor Massenarbeitslosigkeit
 

Gabor Steingart - Das Morning Briefing
23.03.2020
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Guten Morgen Gregor Hochreiter,
die Tragödie der Gegenwart spielt auf drei Bühnen – und das gleichzeitig. Selbst das in Sachen Surrealismus geschulte Publikum weiß nicht, wo ihm der Kopf steht.

Auf Bühne Eins bieten die Koryphäen der Virologie ein bizarres Rollenspiel, dessen Grundregeln die Protagonisten nicht an der Universität, sondern im Talkshow-Studio gelernt haben. Christian Drosten gegen Alexander Kekulé und beide zusammen gegen Hendrik Streeck. Drei Volkserzieher mit unterschiedlichem Temperament und divergenter Strategie wetteifern wie beim Eurovision Song Contest um die Punkte des Publikums.
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Drosten bevorzugt den hohen Ton, redet der Begrenzung der bürgerlichen Freiheiten das Wort. Den Mann im weißen Kittel nerven die „Unverbesserlichen“, wie er sie nennt, die zu dicht gehen und sich in zu großer Anzahl versammeln. „Klar, die gibt es in China nicht – dort werden sie verbessert“, sagt er. Auf Dinge, „die schön sind, aber nicht systemrelevant“, werde man lange verzichten müssen, als da wären Musik, Theater, Debatte, wahrscheinlich auch Parteitage und Demonstrationen – zum Beispiel solche gegen die Autokratie der Virologen.
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Bühne Zwei gehört den Politikern. Eine sich selbst radikalisierende Virusbekämpfungspolitik hat eingesetzt. Jeder will der starke Max sein. Donald Trump gegen Angela Merkel. Angela Merkel gegen Markus Söder. Markus Söder gegen Armin Laschet. Und alle drei zusammen gegen Friedrich Merz, dessen persönliche Quarantäne sie gern in eine politische verwandeln würden.
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dpa
 
Nachdem das Publikum zwischenzeitlich den Eindruck gewann, Deutschland werde aus München regiert, trat gestern die Kanzlerin an den Bühnenrand, als Maxe Merkel. Sie verkündete nach der Schließung von Kitas, Bars, Bordellen, Stadien, Theatern, Universitäten und Schulen nun auch das Ende der Bewegungsfreiheit

Deutschland schaut heute Morgen wie gebannt auf jene Thesen, die man uns an die Haustür geschlagen hat:

1. Die Bürgerinnen und Bürger werden angehalten, die Kontakte zu anderen Menschen außerhalb der Angehörigen des eigenen Hausstands auf ein absolut nötiges Minimum zu reduzieren.

2. In der Öffentlichkeit ist, wo immer möglich, zu anderen als den unter 1. genannten Personen ein Mindestabstand von mindestens 1,5 m einzuhalten.

3. Der Aufenthalt im öffentlichen Raum ist nur alleine, mit einer weiteren nicht im Haushalt lebenden Person oder im Kreis der Angehörigen des eigenen Hausstands gestattet.

4. Gruppen feiernder Menschen auf öffentlichen Plätzen, in Wohnungen sowie privaten Einrichtungen sind angesichts der ernsten Lage in unserem Land inakzeptabel.

5. Verstöße gegen die Kontakt-Beschränkungen werden von den Ordnungsbehörden und der Polizei überwacht und bei Zuwiderhandlungen sanktioniert.
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Bühne Drei ist eine Hebebühne, hier schwebt gewissermaßen über allem der Streit ums Grundsätzliche. Freiheit oder Gesundheit, das ist künftig die Frage. 

Angesichts der globalen Pandemie, die weltweit bis heute Morgen 339.259 infizierte und 14.706 Tote hervorgebracht hat, suspendiert der Westen seine in den Verfassungen verbrieften Bürgerrechte, ohne dass darüber auch nur ein Parlament beratschlagt hätte. Die anfänglichen Ohnmachtsgefühle der Politiker mutierten binnen weniger Wochen zu Allmachtsfantasien.
Ausgehverbote. Amüsierverbote. Arbeitsverbote. Abstandsgebote. Versammlungsverbote. 25.000 Euro werden fällig für eine Geselligkeit, die gestern noch normal war und heute als gemeingefährlich gilt.

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Alles Fröhliche und Unbeschwerte hat das Land zu verlassen. Die Ökonomie, deren Primat eben noch beklagt wurde, hat aus viruspolitischen Gründen derzeit nichts zu melden. Der großen Wohlstandsmaschine wurde der Stecker gezogen. Die Kosten dieser Maßnahme wird der kleine Mann bezahlen, wozu auch der kleine Kaufmann zählt. Die Rechnung kommt zeitversetzt und per Nachname.

Eine schläfrige Regierung, die gestern noch das Virus aus China, Iran und Italien ungehindert einreisen ließ und seiner frivolen Verbreitung im rheinischen Karneval und während der Hamburger Skiferien zuschaute, ist bereit zum Äußersten zu gehen. Wenn es schon an Schutzbekleidung, Atemmasken und Desinfektionsmitteln fehlt, darf es jetzt nicht auch noch an Entschlossenheit fehlen. Read my lips.

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Im Angesicht dieser Gegenwart ist die Gefahr des Overshooting, wie die Amerikaner das nennen, größer als groß. Der israelische Wissenschaftler und Buchautor Yuval Noah Harari malt die Zukunft nach Corona in den Farben des Trauerflors.
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Er prophezeit in einem Essay der „Financial Times“, dass bald schon der Ruf nach digitalem Tracking, nach medizinischer Echtzeitüberwachung laut werden dürfte. Es ginge dann offiziell darum, Temperatur, Blutdruck, besuchte Webseiten und Bewegungsprofile abgleichen zu können, um Infektionsketten früh zu unterbrechen. Mit der gleichen Technologie, am besten als Implantat unter der Haut, ließen sich auch politische Infektionen, zum Beispiel die Ansteckungsgefahr durch freiheitliche Ideen, zum Gegenstand der Früherkennung machen.

Der Mann von der Hebräischen Universität Jerusalem, dessen Buch „Homo Deus“ ein Weltbestseller wurde, sieht durch die Coronakrise die westlichen Demokratien im Belastungstest:

Wenn wir nicht die richtige Wahl treffen, werden wir unsere wertvollsten Freiheiten weggeben und denken, dies sei der einzige Weg, unsere Gesundheit zu schützen.

Der Soziologe Andreas Reckwitz beschreibt, staunend und mit Schauder, eine auf deutschen Straßen zu besichtigende neue Normalität, die das Autoritäre aus dem deutschen Jenseits ins Diesseits befördert hat: 

Wir erleben staatliches Katastrophenmanagement, ohne dass die Katastrophe bereits vollständig eingetreten ist.“

Wir bewegen uns im Stadium staatlichen Risikomanagements, allerdings in einer Totalität, die wir bislang nicht kannten.“

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Gut so, sagt der Publizist und Technologieexperte Christoph Keese, Gründer und Geschäftsführer der digitalen Beratungsfirma hy, in unserer neuen Podcast-Reihe „Der achte Tag“. Auch er will diese Debatte führen – allerdings in einer den Diskurs verändernden Absicht: 

Freiheit gibt es nur, wenn wir sie uns mit einer wohldosierten Portion Unfreiheit erkaufen.“

Wir brauchen eine mächtige Institution, die alle Gewalt besitzt, Epidemien im Keim zu ersticken, um den Menschen vor riesigem Schaden zu bewahren.“

So hofft er, „das Schicksal der Gemeinschaft von der Willkür des Einzelnen zu entkoppeln.“

Wir lernen: Das Virus nistet nicht nur in unseren Schleimhäuten, sondern wütet auch in der Dachstube darüber. Vielleicht hat Juli Zeh doch recht als sie, kurz vor Ausbruch der Krise und damit seherisch, schrieb: „Das Gegenteil von Freiheit ist Gesundheit.“ Wir erleben in dieser frühen Morgenstunde nichts Geringeres als die Verwandlung von Wirklichkeit. Der Mensch ist sich selbst verdächtig geworden.
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Prof. Susanne Herold ist Infektiologin und Lungenforscherin am  Universitätsklinikum Gießen und Marburg. Meine Kollegin Chelsea Spieker hat sich mit ihr über die neuen Regeln der Bundesregierung im Kampf gegen das Coronavirus unterhalten. Ihr Urteil:

Wenn wir jetzt sagen, wir müssen absolut alles tun, diese Kurve abzuflachen, dann macht jegliche Art von Kontaktreduktion Sinn.“ 

Über Ausgangssperren sagt sie:

Die sind absolut relevant. Wir stehen in den Kliniken vor dem Problem, dass wir vermeiden wollen, dass wir italienische Verhältnisse bekommen.“

Für die USA prognostiziert Herold Zustände wie in Italien:

Es ist zu erwarten, dass man in den dortigen Krankenhäusern triagieren muss, das heißt, im Krankenhaus entscheiden muss, wenn es zwei Patienten und ein Beatmungsgerät gibt, wer die besseren Chancen hat. Das ist das Worst-Case-Szenario für einen Arzt oder eine Pflegekraft.“

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Derweil für Deutschland die wirtschaftlichen Prognosen noch mit Samthandschuhen nach unten korrigiert werden, haben die Ökonomen der US-Investmentbank Morgan Stanley sich für Klartext entschieden. Sie erwarten für die USA einen Rückgang des BIP um 30 Prozent sowie eine durchschnittliche Arbeitslosenquote von 12,8 Prozent im zweiten Quartal. Damit liegt dann auch die Realwirtschaft auf der Intensivstation.

 
was diese woche noch wichtig wird
 

Erstens: Im Kampf gegen die Ausbreitung des Coronavirus will das Bundeskabinett heute Vormittag Maßnahmen beschließen. Dabei geht es um große Schutzschirme für Unternehmen, Beschäftigte und Kliniken. Im Schnellverfahren soll am Mittwoch der Bundestag zustimmen, am Freitag der Bundesrat. 

Die Sitzung dürfte von Vizekanzler Olaf Scholz geleitet werden – Kanzlerin Angela Merkel musste sich in häusliche Quarantäne begeben. Sie wird voraussichtlich per Video oder Telefon zugeschaltet.

Zweitens: Die Außenminister der EU beraten am Montag ebenfalls per Videokonferenz über die Coronakrise. Im Mittelpunkt der Gespräche sollen die Rückholung im Ausland gestrandeter EU-Bürger sowie die geopolitischen Folgen der Pandemie stehen.

Drittens: Die New Yorker Börse schließt zu Wochenbeginn ihr Handelsparkett. Diese Notmaßnahme soll die Mitarbeiter vor weiteren Ansteckungen schützen, nachdem es an der Wall Street laut Medienberichten zu zwei Infektionen mit dem Coronavirus kam. Der Handel wird bis auf Weiteres nur noch elektronisch stattfinden.

Viertens: Am Dienstag präsentiert der Medienkonzern Bertelsmann seine Jahreszahlen für 2019. Der Vorstandsvorsitzende Thomas Rabe und sein Finanzvorstand Bernd Hirsch informieren in einer Telefon-Konferenz. Am Mittwoch legt Eon seine Jahreszahlen vor, am Donnerstag folgt die Bilanz der Deutschen Bahn.

Fünftens: Kanzlerin Angela Merkel und ihre EU-Kollegen beraten am Donnerstag über den Kampf gegen die Ausbreitung des Coronavirus – per Videogipfel. Der reguläre EU-Gipfel, der für den 26. und 27. März geplant war, wurde auf unbestimmte Zeit verschoben.

Ich wünsche Ihnen einen nachdenklichen Start in die Woche. Es grüßt Sie herzlichst Ihr


Gabor Steingart
Journalist & Buchautor
 
 
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