Unionsfraktionsvize Linnemann im Interview | Warum ging McDermott?
 

Gabor Steingart - Das Morning Briefing
14.10.2019
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Guten Morgen Gregor Hochreiter,
entlang der syrisch-türkischen Grenze wird scharf geschossen, auch auf Zivilisten. In Syrien geht derzeit mehr in Flammen auf als die Stellungen der kurdischen Miliz – womöglich sogar das bedeutendste politische Großprojekt der Nachkriegszeit. Wir nannten es „den Westen“. 
 
Dieser war im Kern ein unter Führung der amerikanischen Siegermacht organisierter Bund liberaler Demokratien und marktwirtschaftlicher Systeme, die stolz auf eine religionsfreie Staatlichkeit waren. Man glaubte an die Gewaltenteilung, trug Jeans und träumte vom „ewigen Frieden“ Immanuel Kants: „Das Recht der Menschen muß heilig gehalten werden“, so hatte es Kant in seinem Alterswerk verordnet, „der herrschenden Gewalt mag es auch noch so große Aufopferung kosten“.
 
Für den Fall der Fälle, dass eine der herrschenden Gewalten der Erde sich als unfähig erweist, Frieden zu halten, schwor man sich in der Nato ewige Waffenbrüderschaft. Dieses „normative Projekt des Westens“, wie es der Historiker Heinrich August Winkler in seinen Büchern beschreibt, zerbricht in diesen Tagen vor unser aller Augen.
 
Das Nato-Land Türkei dringt immer tiefer in syrisches Gebiet vor. Die Sicherheitszusagen der US-Regierung gegenüber den dort lebenden Kurden wurden über Nacht suspendiert. Die Alternative für sie lautet nun: Tod oder Vertreibung. 
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dpa
Europa verfolgt das heimtückische Spektakel auf der Zuschauertribüne, wissend, dass die offene Rechnung für diesen amerikanischen Wortbruch womöglich auf deutschen Weihnachtsmärkten und an deutschen Wahlurnen beglichen wird: Mit neuen Terroropfern und einem weiteren Zuwachs des Populismus. Die Unmenschlichkeit des türkischen Präsidenten, die vorsätzliche Illoyalität seines amerikanischen Amtskollegen und Europas geschwätzige Hilflosigkeit bilden die Signatur einer Zeit, die von neuem Unheil erzählt.
 
Fragen grundsätzlicher Art drängen sich auf: Kann diese Türkei weiter ein Nato-Mitglied bleiben, mit dem wir unsere intimsten, weil für die Sicherheit unseres Landes relevanten Informationen teilen? Darf die Bundesregierung das den Amerikanern gegebene Versprechen einer Erhöhung des Verteidigungsetats in Höhe von zwei Prozent unserer Wirtschaftsleistung jetzt überhaupt noch erfüllen? Und: Was wird aus Europa, das im Zuge der „America first"-Politik seinen gutmütigen Hegemon verliert? 
 
Der dem konservativen Cato-Institut eng verbundene Historiker Ted Galen Carpenter, 72, der dem Thinktank aus Washington bis 2011 als Vice President for Defense and Foreign Policy Studies diente, beschreibt die Situation in zynischer Klarheit:
Keine ausländische Regierung sollte davon ausgehen, dass ihre Beziehung zu den Vereinigten Staaten unantastbar ist. Wenn genügend Anreize vorhanden sind, werden die US-Präsidenten einen Verbündeten – insbesondere einen kleinen Verbündeten – ohne viel Zögern verraten. So funktioniert Großmacht.“
Aber wie funktioniert europäische Mittelmacht? Diese Frage muss Kanzlerin Angela Merkel – assistiert vom diensthabenden Azubi im Auswärtigen Amt – möglichst zeitnah beantworten. Nostalgie ist auch für eine Kanzlerin kein Geschäftsmodell.
 
Der Weg zu einer neuen Realpolitik führt über Hannah Arendts „Denken ohne Geländer“. Das alte Gestänge der transatlantischen Freundschaft, das deutschen Regierungen aller Couleur jahrzehntelangHalt bot, hat sich aus der Verankerung gerissen, weshalb die Berliner Außenpolitik so unschön wackelt.
 
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Die Nachrichtensender der USA schalten auf Kriegsberichterstattung um. ABC und CNN berichten von freigelassenen IS-Terroristen und ermordeten Zivilisten, wie Sie heute im Morning Briefing Podcast  auf sehr drastische Weise hören werden. Fakt ist:
 
► Die Türken haben ihre Angriffe auf die Kurdenmiliz fortgesetzt und in erbitterten Gefechten Teile der syrischen Grenzstadt Tell Abjad eingenommen. 
 
► Bei einem türkischen Luftangriff auf einen Konvoi mit Zivilisten und Journalisten sind nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, die sich oppositionell zur Regierung von Machthaber Baschar al-Assad positioniert, zehn Menschen getötet worden. 
 
► Insgesamt seien auf syrischer beziehungsweise kurdischer Seite allein am Sonntag 26 Menschen gestorben. Seit Einmarsch der Türken vor sechs Tagen belaufe sich die Todesopferanzahl auf rund 80 Zivilisten.
 
► Nach Angaben der Vereinten Nationen haben bereits 130.000 Menschen ihre Städte verlassen. Nach Schätzungen könnten bald 400.000 Menschen humanitäre Hilfe benötigen.
 
► Unter den Flüchtigen – und da beginnt es die deutsche Sicherheitslage zu tangieren – befinden sich auch von der Kurdenmiliz festgehaltene Angehörige von Anhängern des Terrororganisation Islamischer Staat. Nach kurdischen Angaben seien etwa 800 von ihnen aus einem Lager in Nordsyrien geflohen. Einige davon befinden sich nun auf dem Weg in Richtung Europa.
 
Kanzlerin Merkel forderte Staatschef Erdoğan in einem Telefonat dazu auf, den Einmarsch „umgehend“ zu stoppen. Folgen bei Nichtbefolgung kündigte sie keine an: Auch den Türkei-Deal der EU, in dessen Zuge über mehrere Jahre insgesamt sechs Milliarden Euro nach Istanbul überwiesen werden, stellte sie nicht infrage.
 
Merkels Türkei-Außenpolitik lässt sich in drei Worten so beschreiben: Zuckerbrot ohne Peitsche. Erdoğan darf sich ermuntert fühlen.
 
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dpa
Dazu passt: Die Kanzlerin schwört Amerika die Treue und schlägt sich nun auf die Seite Pekings. Der chinesische Netzwerkausrüster Huawei darf entgegen der amerikanischen Wünsche Komponenten für das gesamte deutsche 5G-Netz liefern. Das berichtet heute das „Handelsblatt“. Eine zunächst diskutierte Klausel, die Huawei den Marktzugang versperren sollte, wurde auf Dringen Merkels gestrichen. Deutschland betreibt eine gefährliche Schaukelpolitik.
 
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Schon wieder kommen Schicksalstage auf die Große Koalition zu. Denn bei ihrem Klimapaket benötigen Union und SPD die Grünen – doch die haben eigene Pläne.
 
Die Öko-Partei will den aus ihrer Sicht unzureichenden Maßnahmen der Regierung deutlich schärfere Forderungen entgegensetzen und dafür ihren Einfluss im Bundesrat nutzen. In neun Landesregierungen sind die Grünen vertreten.
 
So halten sie den von der GroKo vereinbarten Einstiegspreis, der bei zehn Euro pro Tonne Kohlendioxid (CO2) liegen soll, für zu niedrig. Sie will stattdessen mit 40 Euro pro Tonne einsteigen.
 
Dazu kommt ein koalitionsinterner Streit um die Grundrente. Die SPD will die Auszahlung des geplanten Aufschlags auf kleine Renten an keinerlei Bedingungen knüpfen. Über beide Themen habe ich für den Morning Briefing Podcast  mit Carsten Linnemann gesprochen. Der 42-Jährige ist Vizevorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und Chef der Mittelstands- und Wirtschaftsunion. Zum Streit über das Klimapaket sagt er: 
Dort wird man sich einigen. Natürlich ist das nicht ambitioniert, natürlich ist das ein klassischer Kompromiss. Ich persönlich hätte mir gewünscht, man hätte einen richtigen Emissionshandel gemacht und auf den ganzen anderen Quatsch verzichtet.“
Linnemann kündigt an, bei der Erhöhung des CO2-Preises dennoch einen Kompromiss mitzutragen – im Gegensatz zum Streit über die Grundrente, wo laut SPD-Plan die Arztgattin denselben Sozialaufschlag kassieren würde wie der wirklich Bedürftige. Linnemann macht klar:
Was ich nicht mittrage, ist, wenn wir die Bedürftigkeitsprüfung auflösen würden. Das ist eine der Grundfesten der Union, die wir noch haben. Wir dürfen unsere Überzeugungen an diesem Punkt nicht über Bord werfen.“
Fazit: Die Union kämpft nicht nur um das richtige Führungspersonal, sie ringt auch um ihre Seele.
 
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Der von der Börse gefeierte Rücktritt von Bill McDermott als SAP-Chef ist der vielleicht größte PR-Coup des Jahres. Der Aktienkurs stieg, viele Investoren klatschten Beifall. Doch es gibt Anzeichen dafür, dass der Mann nicht so freiwillig ging, wie es scheinen sollte.
 
Als Vorstandsvorsitzender des wertvollsten Dax-Konzerns hat McDermott seit Antritt 2010 zwar exzellente Zahlen geliefert – der Umsatz stieg in seiner Amtszeit um 98,3 Prozent, das Netto-Ergebnis steigerte er um fast 130 Prozent auf zuletzt fast 4,1 Milliarden Euro. Doch einer wie der 75-jährige SAP-Gründer und Aufsichtsratschef Hasso Plattner schaut nicht nur auf die Zahlen von gestern, sondern auch auf die Probleme von morgen. McDermott hinterlässt drei große Baustellen, auf die die Journalisten der „FAS“ zu Recht hinweisen:
 
► Um SAP im neuen Software- und Cloudgeschäft zur Größe zu verhelfen, gab McDermott in den vergangenen Jahren 30 Milliarden Euro für Übernahmen aus. Die Integration der neuen Töchter und Programme lief nicht wie erhofft. Der Teufel nistet im Detail.
 
► Die Sturm-und-Drang-Strategie des Vorsitzenden setzte die Kunden und deren Anliegen zurück. Deren Unzufriedenheit wuchs: „Die Börsianer haben McDermott geglaubt, aber das Murren der Kunden ist unüberhörbar“, schreibt die „FAS“. 

► Viele Produkte funktionierten nicht wie erwünscht, zudem nutzte SAP seine Marktmacht, um die Kunden in das wachstumsträchtige Cloud-Geschäft zu zwingen. Alle SAP-Kunden wissen, dass die Firma sie seit jeher mit einer bewusst hergestellten Abhängigkeit bei der Stange hält.

Die Leistung von Bill McDermott wird damit nicht bestritten, nur geschmälert. Er war ein guter Manager und Marketingmann. Ein Gott war er nicht.
 
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Trumps Attacken auf seinen Rivalen Joe Biden zeigen Wirkung. Nachdem der US-Präsident dem Ex-Vize-Präsidenten und seinem Sohn Hunter unlauteres Handeln sowohl in der Ukraine als auch in China unterstellte, wird Hunter Biden sein Aufsichtsratsmandat bei der chinesischen Investmentfirma BHR nun niederlegen. Und: Sollte Joe Biden Präsident werden, will der Sohn nicht mehr für ausländische Firmen arbeiten.
 
Die Bidens geben damit klein bei. Sie wissen, dass Trumps Anschuldigungen nicht nur an der republikanischen Basis verfangen haben, sondern auch bei den Demokraten. Das zeigen jüngste Umfrageergebnisse, nach denen sich Biden im Vorwahlkampf für die Präsidentschaft plötzlich ein gefährliches Kopf-an-Kopf-Rennen mit seiner prominentesten Rivalin Elizabeth Warren liefert (siehe Grafik). 
 
Besonders bitter für Biden: Nach jüngster YouGov-Umfrage für den „Economist” würden sich 28 Prozent der Befragten für Warren als Präsidentschaftskandidatin entscheiden, nur 25 Prozent schlagen sich auf seine Seite. 
 
Sollten sich die Demokraten wirklich für Warren entscheiden, dürfte der aktuelle Präsident mit vier weiteren Amtsjahren belohnt werden. Die Erfahrung lehrt: Die Vorwahlen der Demokraten werden oft links gewonnen – und bei der Präsidentschaftswahl genau dort dann auch verloren. Michael Dukakis und Al Gore wissen, was hier gemeint ist.
 
Ich wünsche Ihnen einen zuversichtlichen Start in diese neue Woche. Es grüßt Sie auf das Herzlichste Ihr

Gabor Steingart
Journalist & Buchautor
 
 
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