Lucke im Interview | Redaktionsschiff „Pioneer One"
 

Gabor Steingart - Das Morning Briefing
17.10.2019
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Guten Morgen Gregor Hochreiter,
das Europafeindlichste in Europa ist derzeit die EU-Kommission. Sie schafft es nicht einmal, sich selbst zu bilden.
 
Obwohl im Frühjahr die Europawahl stattfand, ist auch im Schlussakkord des Jahres 2019 noch immer der abgehalfterte Kommissionschef Jean-Claude Juncker im Amt. Die einzigen, die sich darüber freuen, sind die Brüsseler Edelgastronomen.
 
Den Staats- und Regierungschefs gelingt es einfach nicht, ein vorzeigbares EU-Kabinett zu bilden. Die Mitgliedsstaaten der Union schieben der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen immer neue dubiose Politiker in den Kabinettssaal – die das selbstbewusster gewordene Europaparlament gleich wieder aussortiert.
 
► Gegen die französische Kandidatin Sylvie Goulard, die Präsident Emmanuel Macron als Binnenmarktkommissarin platzieren wollte, laufen Ermittlungen der EU-Anti-Betrugsbehörde Olaf. Und auch die heimischen Behörden interessieren sich für Madame Goulard. Wegen einer Affäre um Scheinbeschäftigung war sie bereits im Juni 2017 als französische Verteidigungsministerin zurückgetreten.
 
► Der vom ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán vorgeschlagene Kandidat, Laszlo Trocsanyi, wurde schon vor der eigentlichen Anhörung vom Rechtsausschuss gestoppt. Der Vorwurf: Der Mann war in seinem Vorleben Minister und zugleich an einer Anwaltskanzlei beteiligt, die wiederum von Regierungsaufträgen profitierte.
 
► Die von Rumänien vorgeschlagene Rovana Plumb lehnte der Rechtsausschuss des EU-Parlaments wegen Korruptionsvorwürfen ab. Die heimische Opposition warf ihr Amtsmissbrauch und Begünstigung vor.

Das Letzte, was bei dieser Regierungsbildung zählt, ist Fachkompetenz. Einzig die Nationalstaaten – nicht Frau von der Leyen und nicht das Parlament – dürfen die Kommissionsposten besetzen. Stimmt die Nationalität, werden schnell noch die Parteifarben abgemischt und anschließend das Geschlecht abgeglichen. So gebiert man EU-Kommissare. 
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dpa
Dieses Verfahren führt dazu, dass selbst da, wo die EU-Kommission bereits besetzt wurde, die designierten Mitglieder aus demokratischer Sicht nicht überzeugen können. Die wichtigen Stellvertreterposten wurden nach Proporz vergeben, das heißt, die unterlegenen Kandidaten der Europawahl, die Dänin Margrethe Vestager und der Niederländer Frans Timmermans, wurden nicht nach Hause geschickt, sondern befördert.
 
► Vestager, seit dem Jahr 2014 EU-Kommissarin für Wettbewerb, ist nun auch für Digitales zuständig.
 
► Timmermans, designierter Vizepräsident für Klimaschutz, trug als Spitzenkandidat die Verantwortung dafür, dass sich die Fraktion der Sozialdemokraten nach der Wahl um 34 auf 154 Mitglieder verringerte. Er ist bereits seit 2014 Vizepräsident der Kommission, nach der Wahlniederlage wird er nun sogar für das prestigeträchtige Klimathema zuständig sein.
 
► Die Grünen wiederum, mit 75 Abgeordneten nunmehr viertstärkste Fraktion im Parlament, finden sich in der Kommission nicht wieder. Der Grund: Sie sind derzeit in kaum einem EU Land an der Zentralregierung beteiligt. Damit entfällt der Passierschein für den Kommissionsclub. 

Diese Kungel-Kommission spiegelt nicht das Bürgervotum vom Mai 2019 wider, sondern repräsentiert die Machtstrukturen der Nationalstaaten. Brüssel lebt ein Doppelleben: Tagsüber führt man das Wort „Europa“ im Munde, nachts träumt man von der Spitze des heimischen Kirchturms.
 
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Auf das Klimapaket der Großen Koalition wartet nun der parlamentarische Gesetzgebungsprozess. Im Bundestag kann sich die Regierung auf eine Mehrheit stützen, im Bundesrat mit seinen zersplitterten Machtverhältnissen nicht. Dort wollen die Grünen Einfluss nehmen, schließlich müssen bei Teilen des Pakets die Bundesländer zustimmen. In neun von 16 Ländern ist die Öko-Partei an der Regierung beteiligt, in Baden-Württemberg stellt sie mit Winfried Kretschmann sogar den Ministerpräsidenten (siehe Grafik).
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Für den „Morning Briefing Podcast“  hat mein Kollege Michael Bröcker mit der Politikwissenschaftlerin Ursula Münch gesprochen. Die Leiterin der Akademie für Politische Bildung Tutzing sagt über die jüngsten Wahlerfolge der Partei:
In den vergangenen Jahren ist zu der früheren grünen Stammwählerschaft ein neues Publikum, eine neue Wählerschaft hinzugekommen. Diese kann es vereinbaren, zwei Autos pro Familie zu haben und dennoch grün zu wählen, weil man ja zumindest vegetarisch isst. Das ist für die Grünen ein Spagat.“
Diese Wählerschaft braucht man, weil man sonst zwar grüne Träume träumen, aber nicht grün gestalten kann.“
 
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Er war an die Universität Hamburg gekommen, um wieder Makroökonomie zu lehren – und erhielt stattdessen selbst eine Lektion der bedenklichen Art: Studenten und Demonstranten hinderten Bernd Lucke gestern an seiner Vorlesung. Nach fünf Jahren in der Politik war er zurückgekehrt.

Sie riefen „Nazi-Schweine raus aus der Uni!“ und „Hau ab!“ Einige warfen Papierkugeln, tumultartige Szenen spielten sich im Hörsaal ab. Der AfD-Gründer harrte anderthalb Stunden aus und verließ den Campus schließlich unter Schutz der Polizei. 

Wie fühlt er sich jetzt und wie geht es weiter? Darüber habe ich im „Morning Briefing Podcast“  mit ihm gesprochen. Über die Situation während der Vorlesung berichtet er:
Es gab da die Störer in der Veranstaltung, und die haben so viel Krach gemacht und so viel skandiert, dass ich nicht ein einziges Wort sagen konnte.“
Einige Studenten hätten sich um ihn versammelt und die „Autonomen, wie er die Demonstranten nennt, davon abgehalten, zu ihm vorzudringen. Sofort aufzugeben, sei keine Option gewesen.
Wenn diese Störer da schreien, ,Nazis raus‘, dann muss ich natürlich bleiben.“
Die Universität Hamburg hat auf den Vorfall reagiert und mitgeteilt, man müsse „diskursive Auseinandersetzungen“ aushalten. Lucke wundert sich über die „eigenartige Form der Reaktion“.
Was die Universität da mitgeteilt hat, ist an Absurdität nicht zu überbieten. Dieser Mob, muss man wirklich sagen, hat jeden niedergeschrieen, der etwas sagen wollte. Mich befremdet ehrlich gesagt, dass in dieser Erklärung nicht mit einem einzigen Wort das Verhalten der Störer verurteilt wird.
Es gibt eine gewisse Maßlosigkeit in der politischen Auseinandersetzung.“
Einschüchtern lassen will er sich nicht. 
Nächste Woche Mittwoch werde ich wieder im Hörsaal stehen.“
Die Demonstranten verkennen: Bernd Lucke hat die AfD verlassen – und zwar aufgrund jener Radikalisierung, die man ihm jetzt vorwirft. Ihm die Meinungsfreiheit zu verweigern ist nicht links, sondern dumm. Oder um es mit Hannah Arendt zu sagen: „Wahrheit gibt es nur zu zweien.“
 
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Ausgerechnet China, wichtigster Absatzmarkt für Autos traditioneller wie auch alternativer Art, stellt derzeit unter Beweis, was geschieht, wenn man eine Revolution erzwingen will. Im September brach der Absatz für Elektro- und Hybrid-Wagen im Vergleich zum Vormonat um 34,2 Prozent ein. Demnach wurden nur 69.027 Elektro- oder Hybrid-Fahrzeuge neu zugelassen. Der Grund: China hat Förderungen für diese alternativen Antriebe Mitte des Jahres halbiert, bis 2020 sollen sie komplett auslaufen. 
 
Die Erkenntnis, was das wirtschaftlich bedeutet, liefert China gleich mit. Künstlich geschaffene Aufsteiger fallen tief: Tesla-Herausforderer Nio fuhr im zweiten Quartal dieses Jahres einen Verlust von 479 Millionen US-Dollar ein, trennte sich im Laufe des Jahres bereits von etwa 2000 Angestellten. Seit der Kürzung der staatlichen Förderung büßte das Unternehmen 80 Prozent seines Börsenwertes ein.

Wir lernen: Die Marktwirtschaft lässt sich vom Staat stimulieren, aber nicht suspendieren.
 
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Wer glaubt, die Deutsche Bahn mache ihr Geschäft ausschließlich auf Schienen, der irrt. Der Staatskonzern, dessen oberste Aufgabe es ist, Menschen in Deutschland möglichst zuverlässig von A nach B zu bringen, betreibt teils skurrile Geschäfte im Ausland, wie das Portal BuzzFeed News Deutschland recherchiert hat. So befinden sich unter den überprüften 675 Tochterfirmen der Bahn:

► Ein VW-Autohaus in Slowenien
► Eine Firma für Krankentransporte in Großbritannien
► Ein Lieferdienstleister für den Autobauer Ford
► Darüber hinaus hält der Konzern Anteile an diversen Einzelhändlern für Pappaufsteller, Plakate oder Notizblöcke sowie ein Viertel an dem Unternehmen, das den Fuhrpark der Bundeswehr organisiert. 
 
Vielleicht hilft es ja, wenn der Vorstand das tut, was die erfolgreichen Unternehmen weltweit tun: Konzentration auf das Kerngeschäft.
 
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In seiner „Geschichte eines Deutschen“ hat Sebastian Haffner unsere Spezies so beschrieben:
Wie anders würde die Geschichte verlaufen, wenn die Menschen nicht so rettungslos eingespannt in ihren Beruf und in ihren Tagesplan wären, abhängig von 1000 Unübersehbarkeiten, Glieder eines unkontrollierbaren Mechanismus, auf Schienen laufend gleichsam und hilflos, wenn sie entgleisen. Nur in der täglichen Routine ist Sicherheit und Weiterbestehen – gleich daneben fängt der Dschungel an.“
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Die deutsche Sehnsucht nach Komfort und Verlässlichkeit ist auch einer der Gründe, weshalb die Startup-Szene in Deutschland nur mühsam vorankommt. Zu viel Wunsch nach Selbstkontrolle, zu wenig Dschungel. Der von Hendrik Brandis, Gründer und Partner des Venture Capitalist Earlybird, im „Morning Briefing Podcast“  vertretenen These, dass es in Deutschland nicht genügend Geld für mutige und risikoreiche Investitionen gebe, widerspricht Erik Podzuweit. Er ist Gründer des Vermögensverwalters Scalable und meint, dass in Wahrheit große Ideen fehlten:
Oft sind die Ideen gar nicht groß oder extravagant genug, damit man wirklich große Investitionen tätigen kann.“
In Deutschland werde „zu deutsch“ gegründet und investiert. Große Erfolgsgeschichten in den USA entstünden nicht am Reißbrett, sondern eher „zufällig“, sagt Podzuweit. Hierzulande stünden Business-Pläne mit schneller Refinanzierung im Fokus, keine unternehmerischen Visionen. Ein zweites Google, ein neues Amazon könne so nicht entstehen.
 
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Noch auf dem Trockenen: der Schiffsrumpf der „Pioneer One" (immoshots/Ralph Orange)
 
Von derartigen Zurufen ermuntert, treiben wir, das Team hinter dem „Morning Briefing“, unser Unternehmen Media Pioneer voran. Unser Ziel ist nichts Geringeres als ein Medienunternehmen neuen Typs. Die Redaktion unter Leitung von Michael Bröcker wird derzeit aufgebaut, die Technologie konzipiert und installiert, sodass wir Sie im Frühjahr 2020 über ein neues Nachrichtenportal rund um die Uhr informieren können – unabhängig von politisch besetzten Aufsichtsräten und frei von kommerzieller Werbung.
 
Das „Morning Briefing“-Team wird die neuen journalistischen Formate an Bord der „Pioneer One“ produzieren: Texte, Podcasts und TV-Formate. Das 40 Meter lange und sieben Meter breite Redaktionsschiff soll nach Fertigstellung im Regierungsviertel unterwegs sein. Ein transparenter Journalismus entsteht, der seine Leserinnen und Leser mit wörtlichsten aller Sinne mit an Bord nimmt.
 
Gebaut wird das Schiff derzeit in den Hallen der Lux-Werft in Mondorf bei Bonn. Dort arbeiten die Schiffsbauer in 16.000 geplanten Arbeitsstunden an der „Pioneer One“. 70 Tonnen Stahl sollen verbaut und fünf Kilometer Kabel verzogen werden. Chelsea Spieker leitet auf unserer Seite das Projekt. Michael Bröcker hat den Werftbesuch, den wir in dieser Woche absolvierten, protokolliert und im Pioneer-Blog  seine Eindrücke festgehalten. Fühlen Sie sich eingeladen, vorbeizuschauen.

Falls Sie zusätzliche Fragen zum Stand des Projekts haben, schreiben Sie mir: media-pioneer@gaborsteingart.com
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40 Meter lang, sieben Meter breit: die „Pioneer One“ (immoshots/Ralph Orange)
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Projektleiterin Chelsea Spieker (immoshots/Ralph Orange)
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Lux-Chef Rainer Miebach (l.) und Media-Pioneer-CEO Ingo Rieper (immoshots/Ralph Orange)
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Michael Bröcker (l.) mit Chelsea Spieker und Gabor Steingart (immoshots/Ralph Orange)
Ich wünsche Ihnen einen guten Start in diesen neuen Tag. Es grüßt Sie auf das Herzlichste Ihr

Gabor Steingart
Journalist & Buchautor
 
 
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