Streit ums Rentenalter | Olympia an Rhein und Ruhr?
 

Gabor Steingart - Das Morning Briefing
22.10.2019
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Guten Morgen Gregor Hochreiter,

das Krebsgeschwür des Mittelstands ist die Bürokratie. Trotz aller chirurgischer Eingriffe diverser Chefärzte wuchert der Paragrafen-Tumor seit Jahrzehnten – und entzieht so einer vitalen Volkswirtschaft Kraft. Schon am Hof des Sonnenkönigs Ludwig XIV. sollten die Beamten nicht nach Gutdünken, sondern nach Vorschrift entscheiden, was den französischen Handelsminister Jean Claude de Gournay zur Klage über die „Herrschaft der Schreibtische“, die „bureaucratie“ führte. Der Soziologe Max Weber hat das Phänomen vor rund 100 Jahren in poetischer Schlichtheit so beschrieben: 

Die Bürokratie ist gegenüber anderen Trägern der modernen rationalen Lebensordnung ausgezeichnet durch ihre weit größere Unentrinnbarkeit.“

Unentrinnbar – das meinte Weber positiv, die Bürokratie verstand er als effiziente Organisationsform: 

Wenn der moderne eingeschulte Fachbeamte einmal herrscht, ist seine Gewalt schlechthin unzerbrechlich.“

Heute klingt diese Idealvorstellung vor allem für kleine mittelständische Unternehmen bedrohlich. Wer als Familienunternehmer schon einmal versucht hat, seinen Betrieb an den Sohn oder die Tochter zu übergeben oder eine neue Lagerhalle auf dem Firmengelände zu bauen, landet in einem Dokumentendickicht, dem Geschäftsführer oft nur mit einer neuen Planstelle begegnen: einem Behördenbeauftragten. 

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Union und SPD hatten deshalb 2005 eine gute Idee. Sie erfanden ein unabhängiges Expertengremium als Bürokratie-TÜV für die Bundesregierung: den Nationalen Normenkontrollrat. Das Gremium unter der Leitung des früheren Bahn-Chefs Johannes Ludewig wirbt seither emsig für den Abbau von Vorschriften, für eine digitale Verwaltung, die ihren Namen verdient (und in anderen europäischen Ländern längst Alltag ist). Doch immer wieder scheitert es an den herrschenden Verhältnissen. Heute übergibt die Runde tapfer ihr Gutachten Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die Bilanz ist ernüchternd:

► Seit 2011 sind die Bürokratiekosten für die deutsche Wirtschaft insgesamt um knapp fünf Milliarden Euro gestiegen.

► Zwar ist die heimische Ökonomie 2017 durch den Wegfall von Vorschriften und Gesetzen um rund 880 Millionen Euro entlastet worden. Doch in den vergangenen zwölf Monaten wurde dies nahezu vollständig wieder zunichtegemacht: Neue Regelungen verursachten einen Mehraufwand von 831 Millionen Euro.

► Die 2014 erlassene „Bürokratiebremse“, wonach neue Vorschriften und Gesetze nur durch eine Entlastung an anderer Stelle erfolgen dürfen (One-in-one-out), sei ein „Fehler im System“. Denn sie gelte nicht bei der Umsetzung von EU-Richtlinien. Einem mittelständischen Unternehmer ist es ziemlich egal, ob er Vorgaben aus Brüssel oder Berlin erfüllen muss.

► Bei der Digitalisierung der Verwaltung ist Deutschland hinten dran. Der elektronische Personalausweis ist weiter Wunschdenken, ein Behördenportal für alle Verwaltungsvorgänge reine Theorie. Die elektronische Steuererklärung muss selbst derjenige noch mühsam selbst ausfüllen, der keine anderen Einkommen als das Arbeitseinkommen hat. In Schweden kommt die Steuererklärung vorausgefüllt auf das Handy – ein Tastendruck reicht als Zustimmung.

Auch an anderer Stelle hemmen Verordnungen die dynamische Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft. 

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► Seit sieben Jahren zieht sich die Fertigstellung der Autobahn A20 bei Bad Segeberg hin. Der Grund: Fledermäuse dürfen beim Überwintern nicht gestört werden. Jetzt sollen acht Fledermausbrücken gebaut werden. Ein entwickelter Fledermaus-Blitzer (siehe Bild) hatte gezeigt, dass die Tiere das Bauwerk annehmen. Ein praktischer Artenschutz. Der Kommentar von Ministerpräsident Daniel Günther (CDU): „Wir müssen einfach in Zukunft besser und sauber arbeiten.“

► Der juristische Streit um die Elbvertiefung dauerte insgesamt 17 Jahre, bis das Wirtschaftsprojekt – das dem Hamburger Hafen ein Aufkommen von drei Millionen Containern zusätzlich pro Jahr bringen soll – in diesem Jahr starten konnte.
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► Die Energiewende finden die Deutschen mehrheitlich richtig, aber die notwendigen Arbeiten in der eigenen Nachbarschaft gehören nicht dazu. Klagen verhindern immer wieder den Ausbau wichtiger Stromtrassen, um den Öko-Strom aus dem Norden in die Industriegebiete des Südens zu bringen. Aktuell sind rund 7700 Kilometer neue Stromleitungen geplant, 1100 Kilometer sind davon erst gebaut. Die Bürgerinitiativen sind wachsam.

► Deutschland braucht je nach Expertenschätzung bis zu 400.000 neue Wohnungen pro Jahr. Doch wer sie bauen will, bekommt es mit dem Bauamt zu tun. Die Vorschriften für neue Immobilien haben sich seit 1990 von 5000 auf 20.000 vervierfacht.

► Für Unternehmensgründer ist der Wettbewerb nicht unbedingt die größte Herausforderung: In einer Commerzbank-Studie nannte fast jeder zweite Jungunternehmer die Regulierung als größtes Hindernis.

Fazit: Mit Bürokratieentlastungsgesetzen kann die Politik das Problem nicht bekämpfen. Es geht um einen Mentalitätswandel. Und um Prioritäten. Der Jahresbericht des Normenkontrollrats müsste der einzige Tagesordnungspunkt auf einer Sondersitzung des Koalitionsausschusses sein. Wahrscheinlicher ist, dass die Kanzlerin das Dokument mit freundlichem Gesicht entgegennehmen – und anschließend in einer Schublade verschwinden lassen wird.

 
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Ein alter politischer Gassenhauer wird auf den Fluren der Berliner Republik derzeit neu aufgelegt: ein höheres Renteneintrittsalter

Die Bundesbank fordert angesichts der demografischen Entwicklung im Land erneut eine Anhebung des Renteneintrittsalters in Schritten bis 2070 auf 69,3 Jahre. Greta Thunberg und ihre Freunde müssten demnach bis fast 70 arbeiten. Zur Erinnerung: das gesetzliche Renteneintrittsalter liegt derzeit bei 65 Jahren (für Geburtenjahrgänge ab 1964: 67 Jahre). Die Begründung der Bundesbanker ist simple Mathematik: Die stetig steigende Lebenserwartung bedrohe die Finanzen der gesetzlichen Rentenversicherung. Wenn die Zahl der Rentenempfänger steigt und die Zahl der Beitragszahler sinkt, gibt es Reformbedarf. 

Nur: Die Realität in Deutschland sieht anders aus. Die Deutschen gehen schon jetzt deutlich früher in Rente als es der Rentenversicherung lieb sein kann: Zuletzt lag das tatsächliche Renteneintrittsalter im Schnitt bei 61,9 Jahren, ein Anstieg von bloß 1,8 Jahren in 20 Jahren. Nur sieben Prozent der Erwerbstätigen arbeiten länger als nötig.

Vielleicht ist ein alter Vorschlag der FDP der richtige Weg: die Aufhebung des gesetzlichen Eintrittsalters. Ob 63, 65 oder 70 – starre Altersgrenzen werden den Lebensentwürfen der Menschen nicht gerecht. Der Maurer, der 40 Jahre körperlich geschuftet hat, muss in Rente gehen können, wenn er nicht mehr kann. Der Internist will vielleicht ein paar Jahre länger seine Patienten behandeln. 

Auch der frühere Präsident des Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, findet: 

Die Politik sollte ernsthaft darüber nachdenken, die feste Altersgrenze für die Beendigung des Arbeitslebens vollständig aufzuheben und gegenüber dem Arbeitgeber einen Rechtsanspruch auf Fortsetzung des Beschäftigungsverhältnisses zu gleichen Bedingungen zu ermöglichen.“

Selbst der Mann, der einst die Rente als ewig sicher definierte, Ex-Arbeitsminister Norbert Blüm (CDU), gestand Anfang des Jahres in einem Interview:

Soll doch jeder so lange arbeiten, wie er kann und will!“

 
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Von wegen höher, schneller, weiter. Die Olympischen Spiele an Rhein und Ruhr 2032 sollen kleiner, entspannter und bescheidener werden als es bisherige Veranstalter vorgemacht haben. Mit diesem Konzept geht Sportmanager Michael Mronz, der in Aachen seit vielen Jahren das Weltfest des Reitsports organisiert, in das Rennen um eine deutsche Bewerbung. In einer Entfernung von rund 70 Kilometern sollen die verschiedenen Disziplinen stattfinden. In einem Umkreis von 600 Kilometern leben 220 Millionen Menschen. So gesehen ist das Rhein-Ruhr-Gebiet die Herzkammer Europas. 

Im Morning Briefing Podcast  erklärt der 52-Jährige, Witwer des 2016 verstorbenen FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle, seine ambitionierten Pläne. Seine zentralen Aussagen: 

Wir möchten die Olympischen Spiele dem Sport zurückgeben.“

Was die Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg in dem künstlichen Gebilde Nordrhein-Westfalen zusammenführten – die störrischen Westfalen und die selbstbewussten Rheinländer – sieht Organisations-Chef Mronz heute nicht als Hindernis, sondern als Chance. Rudern in Duisburg, Hockey in Mönchengladbach, Wasserball in Gelsenkirchen und Reiten in Aachen. Einheit in Vielfalt.

Uns geht es darum, ein neues Wir-Denken zu entwickeln. Und dann freue ich mich auch, mit einem Düsseldorfer ein Altbier zu trinken. Auch, wenn ich als Kölner lieber ein Kölsch trinke.“

 
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Europas Gründerszene ist vitaler, als manch ein Experte denkt: In den ersten sechs Monaten stiegen die Investitionen in Start-ups im Vergleich zum Vorjahr um starke 62 Prozent auf 16,9 Milliarden Euro. Zu diesem Ergebnis kommt das neue Start-up-Barometer der Unternehmensberatung EY. 

► 40 Prozent des Risikokapitals flossen in junge digitale Unternehmen in Großbritannien. Die Tech-Entrepreneure des Vereinten Königreichs sammelten mit 6,7 Milliarden Euro mehr als doppelt so viel Geld ein wie noch im Vorjahreszeitraum. Sie bauten ihre Spitzenposition damit aus.

► Ihre Position verbessern konnten auch französische Start-ups. In den ersten sechs Monaten flossen 2,8 Milliarden Euro in die Gründer – ein Plus von 40 Prozent.

► Auch deutsche Start-ups haben mehr Geld in der Kriegskasse als im Vorjahr. Mit einem Plus von acht Prozent auf insgesamt 2,7 Milliarden Euro wachsen sie aber deutlich langsamer als ihre französischen Kollegen. 

Fazit: Im Vokabular der Risikokapitalgeber scheinen „Brexit“ und „Rezession“ Fremdwörter zu sein. Im Gegenteil: Investoren glauben an die Innovationskraft europäischer Digital-Pioniere. Die Bundesregierung sollte sich indes die Frage stellen, weshalb mit Europa nicht zwingend Deutschland gemeint ist.

 
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Lange nichts gehört von Ex-Finanzminister Peer Steinbrück (SPD). Das hat dem streitbaren Sozialdemokraten offenbar auch selbst nicht gefallen. Nun greift der Polit-Pensionär, in dessen Amtszeit die internationale Finanzkrise und die milliardenschweren staatlichen Nothilfen für Landesbanken und die IKB Bank fiel, im Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ frontal die Geldpolitik von EZB-Chef Mario Draghi an.

Inzwischen glaube ich, dass die Nachteile der EZB-Politik größer als ihre Vorteile sind.“

Bei der Berufung des Zentralbank-Chefs 2011 war Steinbrück noch überzeugt von Draghis Fähigkeiten: „Draghi ist immer sehr souverän, sehr ruhig und fachlich exzellent.“ Nun scheint sich seine Meinung geändert zu haben. Steinbrück kritisiert die Niedrigzins-Politik scharf:

Die Geldpolitik hat ihre Handlungsfähigkeit verloren. Wenn wir jetzt in eine Krise kommen, kann nur noch die Fiskalpolitik gegensteuern.“

Der frühere Finanzminister, dessen einstiger Adlatus und Vertrauter Jörg Asmussen zwei Jahre lang im EZB-Direktorium einer lockeren Geldpolitik und massiven Aufkäufen von Unternehmensanleihen die Treue hielt, hat nun genau das als historischen Frevel erkannt. 

Jetzt taucht der Gedanke auf, dann solle die EZB doch auch Aktien aufkaufen. Das ist wirklich kurios. Oder absurd. Das nennen wir Helikoptergeld. Das ist doch Voodoo-Ökonomie.“

Fazit: Peer Steinbrück erinnert an den Meister Pfriem aus dem gleichnamigen Märchen der Brüder Grimm. Der hatte seinen Lehrling wegen eines verschnittenen Schuhs, den er selbst geschustert hatte, ordentlich zusammengefaltet. Oder um es in der Seemannssprache zu sagen: „Bei gutem Wetter kann jeder Steuermann sein.“ 

Ich wünsche Ihnen einen sonnigen Tag.

Herzlichst, 
Ihr

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Michael Bröcker, Chefredakteur Media Pioneer
(in Vertretung für Gabor Steingart)
 
 
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