Jakob Augstein im Interview | Krisensitzung bei der Bahn
 

Gabor Steingart - Das Morning Briefing
07.11.2019
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Guten Morgen Gregor Hochreiter,

Thüringen-Konflikt, Merz-Attacke, JU-Mitgliederbegehren: Der Abrieb innerhalb der Union ist enorm. Doch die Zentrifugalkräfte, die da wirken, führen im Verhältnis zwischen der CDU-Kanzlerin und der CDU-Vorsitzenden eher zur Kompression. Die beiden Politikerinnen verstehen es, ihre Konflikte, die immer auch Rollenkonflikte sind, zu managen.

► Annegret Kramp-Karrenbauer schlägt eine international überwachte Schutzzone in Nord-Syrien vor. Die Kanzlerin ist nicht begeistert, aber schweigt. Später wird sie die Idee „sehr vielversprechend“ nennen, „auch wenn noch viele Fragen offen sind.“ Wir lernen: Merkel lebt auf Distanz zu AKK, aber nicht im Konflikt mit ihr.

► Auch bei der Frage einer möglichen Beteiligung des chinesischen Smartphone-Giganten Huawei am Ausbau der 5G-Netze in Deutschland bewegen sich beide in Sichtkontakt zueinander: Merkel will mit Rücksicht auf die deutschen Autoexporte den chinesischen Konzern „nicht per se“ ausschließen. Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer klingt auf Twitter strenger: „Digitale Souveränität und der Schutz unserer Kommunikationsinfrastruktur haben höchste Priorität.“ Man fühlt sich an das Theaterstück des Literaturnobelpreisträgers Dario Fo erinnert: „Offene Zweierbeziehung.“

► Beim Thema Grundrente sind die Interessenunterschiede der beiden unverkennbar, weshalb der Koalitionsausschuss verschoben wurde: Merkel will auf keinen Fall die GroKo sprengen – und ist daher gegenüber der SPD gefügig. AKK kann sich einen Gesichtsverlust in den Reihen der Konservativen nicht leisten – und pocht daher auf Bedarfsprüfung. Allerdings: Eine "Bedarfsprüfung Light" würde ihr schon reichen. Es geht nicht um eine andere Politik, nur um eine andere Beleuchtung. 

► Die Verteidigungsministerin fordert vehement die Umsetzung des Zwei-Prozent-Ziels, was eine deutliche Steigerung der Verteidigungsausgaben bedeuten würde. Merkel hat diese Erhöhung zwar den amerikanischen Präsidenten Obama und Trump zugesagt, aber unternimmt seither nichts, um diese zu erreichen. Kein ernstes Problem zwischen den beiden CDU-Frauen: AKK hat sich mit Merkels rhetorischer Form des Regierens arrangiert. Fordern jetzt, liefern später. 

 
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dpa
 

Selten wurde ein Bundesfinanzminister von den Medien so falsch interpretiert wie heute Morgen Olaf Scholz. Sein Umfaller in Sachen einer EU-Einlagensicherung – „Scholz zur Erbsünde bereit“, schreibt die „Welt" – ist gar keiner, sondern ist der Versuch einer Neuordnung der europäischen Bankenlandschaft. 

Das strategische Ziel ist eine paneuropäische Bankenfusion – am besten unter deutscher Führung. Scholz und sein Finanzstaatssekretär Jörg Kukies, ehemals Chef von Goldman Sachs in Deutschland, wollen der Wall Street und der Londoner City einen europäischen Champion entgegensetzen. 

Die Nebenbedingungen für eine gemeinsame Einlagensicherung sind in Wahrheit die Hauptbedingungen. Die von Scholz erhobenen Forderungen schaffen erst die Grundlage, auf der ein solcher europäischer Champion entstehen kann:

► Im Gegenzug für die Absicherung der südeuropäischen Sparer will Scholz einheitliche Insolvenzregeln für Banken. Bislang gibt es in Europa mehr als ein Dutzend unterschiedliche Insolvenzordnungen, was sogenannte Cross-Border-Fusionen enorm erschwert.

► Auch fordert er eine Harmonisierung der Steuerregeln für die Geldinstitute. Bisher bestimmen die Nationalstaaten selbst über den zu versteuernden Gewinn, was eine europäische Bankenbilanz nahezu unmöglich macht.

► Er möchte Staatsanleihen in den Bilanzen der Banken neu bewertet sehen, längst seien sie keine risikolosen Anlagen mehr, so Scholz. Das dürfte den Kaufpreis vieler südeuropäischer Banken senken. Sie würden als Übernahmeziel attraktiv.

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dpa
 

Die Sparkassen, die gegen einen solchen europäischen Einlagensicherungsfonds sind und sich heute Morgen über diesen Vorstoß empören, sollten sich abregen. Denn:

► Geld fließt erst, wenn die nationalen Einlagentöpfe, die jeder Staat garantieren muss, ausgeschöpft sind.  

► Auch dann fließt kein echtes Geld aus Deutschland, sondern es wird lediglich ein Darlehen aktiviert.

Die Chefs von Deutsche Bank und Commerzbank haben den wahren Coup des ministeriellen Vorstoßes durchschaut – und sich entsprechend gefreut. Denn Scholz erhöht ihre Chancen, einen paneuropäischen Merger initiieren zu können.

Für den Vorstoß des Bundesfinanzministers sei man sehr dankbar, erklärte der stellvertretende Vorstandschef der Deutschen Bank, Karl von Rohr, am Mittwoch auf einer Finanzkonferenz. „Wir können der Regierung nur ap­plaudieren.“

Fazit: Der Wirtschaftsminister verfasst Thesenpapiere zum Thema strategische Industriepolitik. Der Finanzminister betreibt sie.

 
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imago
 

Der internationale Währungsfonds kann es nicht lassen. Jede noch so kleine Zuckung auf dem Armaturenbrett der Weltwirtschaft nimmt die in Washington beheimatete Institution zum Anlass, den Europäern, und damit vor allem den Deutschen, eine erhöhte Schuldenaufnahme zu empfehlen:

„Angesichts der erhöhten Risiken eines Abschwungs, sollten Notfallpläne zur Umsetzung bereitstehen“, heißt es im gestern veröffentlichten Regional Economic Outlook for Europe. Während bereits hoch verschuldete Länder Konsolidierungen verlangsamen sollten, müssten stärkere Staaten hingegen Optionen zum Schuldenmanagnent („debt management options“) aktivieren.

Dabei wissen wir heute: Verschuldung ist jene Geisteskrankheit, für deren Therapie sie sich hält.

 
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Norbert Walter-Borjans will, sollte er ins Amt des SPD-Vorsitzenden gewählt werden, nicht nur die Große Koalition beenden, sondern auch den Anspruch der SPD auf das Etikett Volkspartei. Im Interview mit dem „Spiegel“ sagt er:

Ich glaube nicht, dass wir im Augenblick an dieser Stelle sind, einen Kanzlerkandidaten aufzustellen.“

Die jüngsten Wahlen und Meinungsumfragen lassen dem Mann kaum eine andere Wahl: Nach der Europawahl im Mai 2019 (15,8 Prozent) stürzte die SPD in Umfragen zuletzt auf 13,5 Prozent. In Thüringen fiel das Ergebnis einstellig aus. Der entsprechende Eintrag im Geschichtsbuch der SPD-Kanzler würde demnach lauten: Brandt, Schmidt, Schröder, Schluss.

 
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dpa
 

Der Gewinn bricht weg, die Schulden steigen – und was macht die Deutsche Bahn? Sie berät heute darüber, ihren Spitzenmanagern eine Gehaltserhöhung zu spendieren und den Vorstand zu erweitern. So soll die kriselnde Gütersparte DB Cargo wieder ein eigenes Vorstandsressort erhalten. Der Personalausschuss des Aufsichtsrats hat dafür Sigrid Nikutta empfohlen, die Chefin der Berliner Verkehrsbetriebe. 

Thema im Aufsichtsrat dürfte auch ein Ultimatum des Bundesverkehrsministers Andreas Scheuer sein. Der Konzern soll seine Probleme schneller lösen, darunter Zugverspätungen und -ausfälle. Der unter Druck geratene Vorstandsvorsitzende Richard Lutz muss bis zum 14. November Vorschläge präsentieren. Seine Uhr hat zu ticken begonnen.

 
Wirecard
 

Besser als die Frühindikatoren aller Institute funktionieren die echten Zahlen der Unternehmen. Gestern informierten der Finanzkonzern Wirecard, Sportartikel-Hersteller Adidas und Autohersteller BMW über ihre Zahlen im dritten Quartal. Alle drei Unternehmen präsentierten sich erstaunlich robust.

Unbeachtet der Täuschungs- und Vertuschungsvorwürfe seitens der „Financial Times“ legte der Finanzdienstleister Wirecard die stärksten Zahlen der deutschen Finanzindustrie vor. Der Umsatz stieg im dritten Quartal um 37 Prozent auf 731,5 Millionen Euro. Das Ergebnis vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen (Ebitda) legte um 43 Prozent auf 211,1 Millionen Euro zu. Wirecard-CEO Markus Braun ist der neue Star der deutschen Finanzindustrie.

Adidas
 

Auch wenn die Börse mehr erwartet hatte, fielen die Fundamentaldaten des Sportartikel-Herstellers Adidas einmal mehr beeindruckend aus. Die währungsbereinigten Erlöse kletterten um sechs Prozent auf 6,4 Milliarden Euro, die operative Marge fiel zwar um 1,3 Prozentpunkte niedriger aus, lag aber immer noch bei 14 Prozent. Was zählt, ist die Prognose für das Gesamtjahr und die hält CEO Kasper Rorsted unverändert aufrecht: Am Ende soll ein Umsatzplus von fünf bis acht Prozent stehen. Der Gewinn dürfte um zehn bis 14 Prozent höher liegen als im Vorjahr. 

BMW
 

Für die größte Überraschung sorgte BMW. Die Erlöse legten im dritten Quartal um 7,9 Prozent auf 26,67 Milliarden Euro zu. Das Ergebnis vor Zinsen und Steuern (Ebit) kletterte um 32,9 Prozent auf 2,29 Milliarden Euro. Die operative Marge im Automobilbau, auf die sich CEO Oliver Zipse wieder konzentrieren will, stieg um 2,2 Prozentpunkte auf 6,6 Prozent.

Die gute Nachricht für die Aktionäre ist eine schlechte Nachricht für Greta Thunberg. Bei BMW boomt nach wie vor das Geschäft mit den SUV. Im dritten Quartal steigerte der Hersteller den Absatz der schweren Spritschlucker um 29,1 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. 

 
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Der Journalismus ist unter Druck geraten. Und das ist gut so. Weil er dadurch begründungspflichtig wird. Weil er sich durch Rede und Gegenrede erneuert und demokratisiert. 

Aber was macht den guten Journalisten aus? Ist er im Regelfall unabhängig und „im Zweifel links“, wie Jakob Augstein unter Bezug auf Rudolf Augstein meint? Oder orientiert er sich – gänzlich unideologisch – an den Begriffen von Vernunft und Wirklichkeit, wie ich glaube? Im Gespräch für den Morning Briefing Podcast  haben wir uns dazu ausgetauscht. 

Augstein ist Miteigentümer des „Spiegel“ und alleiniger Eigentümer der Wochenzeitung „Der Freitag“, die von Günter Gaus und Christoph Hein gegründet wurde. Er, Augstein, hat sie im Mai 2008 gekauft, renoviert und zu einem bedeutenden Debattenmedium der deutschen Linken entwickelt. Im Gespräch wendet er sich gegen den populär gewordenen Vorwurf, man dürfe „in Deutschland nicht alles sagen“ - und bekennt sich zur Unsagbarkeit als einer Art gesellschaftlichem Selbstschutz:

Ich bin unbedingt für Konventionen und Tabus, denn ohne diese schlagen sich die Leute den Schädel ein.“

Was diese Menschen eigentlich meinen, ist doch: Sie können nicht ungehemmt ihren Ressentiments in der Öffentlichkeit freien Lauf lassen, sie können das böse N-Wort nicht mehr ungestraft aussprechen oder frauenfeindliche Witze machen. Ich würde sagen: Ja, stimmt, die gute alte Zeit war gar nicht so gut. Das, was Du da gerade beschreibst, mein Freund, nennt sich Fortschritt.“

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Augstein bestreitet, dass sich der Journalismus allein auf eine übergeordnete Vernunft berufen darf:
Das mit der Vernunft ist eigentlich ein Trick. Denn Werte und Interessen lassen sich mit Vernunft nicht auflösen."
Über Angela Merkel hat er eine eher ungünstige Meinung:
Die Große Koalition ist eine Zombie-Koalition. Jetzt stirbt Merkel bei lebendigem Leib. Sie hängt wie jeder Mann an der Macht, klebt am Sessel, man muss sie mit den Füßen zuerst raustragen: ein unwürdiges Schauspiel."
Außerdem haben wir gesprochen über die Reformnotwendigkeiten des Kapitalismus, das Wechselspiel von Vernunft und Interessen, sowie seine Neugier auf Björn Höcke. Prädikat: unbedingt hörenswert.
Ich wünsche Ihnen einen entspannten Start in den neuen Tag. Es grüßt Sie auf das Herzlichste Ihr

Gabor Steingart
Journalist & Buchautor
 
 
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