Nina Ruge im Interview | Digitalkonzerne greifen nach Patientendaten
 

Gabor Steingart - Das Morning Briefing
14.11.2019
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Guten Morgen Gregor Hochreiter,
die Grünen sind die heimliche Staatspartei des deutschen Bürgertums. Sie verkörpern mit dem moderaten Robert-Habeck-Ton, mit ihrem Streben nach Tierwohl, Klimaschutz und einem die Ressourcen schonenden Kapitalismus die Sehnsucht unserer Zeit. Der gute Deutsche ist dabei auch noch entmilitarisiert bis auf die Knochen. Das Diktum von Hermann Hesse gilt auch in der Gegenwart: „Wir dürfen für unseren Glauben sterben, aber nicht töten.“ 

Der moderne Teil der Wirtschaft und eine Mehrheit des Bürgertums warten ausweislich aller Meinungsumfragen ungeduldig darauf, es mit einer schwarz-grünen Bundesregierung zu versuchen. Beim ARD-Deutschlandtrend bezeichnen 48 Prozent der Befragten den Umwelt- und Klimaschutz als das mit Abstand wichtigste Thema.

Die jüngste Investitionsentscheidung des Tesla-Gründers Elon Musk, der im Großraum Berlin ein neues Werk bauen will, ist strategisch klug gewählt. Deutschland ist mit seinem Hang zu Purismus, Pazifismus und einer Naturverehrung, die ihresgleichen sucht, das „Heartland“ der europäischen Postmoderne. Ökonomische Hintergedanken sind erlaubt: Man hofft, das angestaubte Label „Made in Germany“ mit energieeffizienten Technologien neu aufladen zu können.
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Derweil wir uns angewöhnt haben, vom Niedergang des Parteienstaates zu sprechen, erleben die Grünen einen märchenhaften Aufstieg. Bekamen sie bei der Bundestagswahl 1980 noch 1,5 Prozent der Zweitstimmen, waren es 2002 bereits 8,6 Prozent, 2009 dann 10,7, bei der Europawahl 2019 stiegen sie schließlich auf 20,5 Prozent: Das war grüner Europarekord. Aktuell liegen sie laut Forsa-Institut bei 21 Prozent.
 
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Auch bei der Mitgliederentwicklung legten die Grünen anders als die Volksparteien stetig zu: Seit 1990 hat sich die Zahl der Grünen-Mitglieder auf 85.000 mehr als verdoppelt, während sich SPD und CDU-Mitglieder ungefähr halbierten.

Die Unternehmen haben auf das allmähliche Ergrünen des Bürgertums, also ihrer zahlungskräftigsten Klientel, durchaus reagiert. Auf dem Armaturenbrett der Volkswirtschaft sind fünf Auffälligkeiten zu beobachten, die sonst in keinem großen Industrieland auftreten.
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Die erneuerbaren Energien aus Wind, Sonne und Biogas deckten im zweiten Quartal 2019 zusammen 46 Prozent der Stromproduktion in Deutschland ab. Zum Vergleich: In Großbritannien sind es 28 Prozent und in Italien 24 Prozent. Im Atomstaat Frankreich tragen die Erneuerbaren nur mit acht Prozent zur Stromproduktion bei.

Bei der Energieeffizienz von Gebäuden und Industrie, die hierzulande noch als große Modernisierungsreserve gilt, liegt Deutschland laut des amerikanischen Thinktanks „American Council for an Energy-Efficient Economy“ (ACEEE) weltweit vorne, vor Japan, Italien, Frankreich und den USA.

Die Lebensmittelindustrie registriert seit längerem den Umschwung. So bezeichnen sich inzwischen rund acht Millionen Deutsche – das sind rund zehn Prozent der Bevölkerung – als Vegetarier und weitere 1,3 Millionen als Veganer. Der Markt für vegetarische und vegane Lebensmittel wächst mit jährlich zweistelligen Raten.
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Die deutsche Recyclingquote ist weltweit Spitze. 68 Prozent aller Siedlungsabfälle – also Sperrmüll, Klärschlämme, Wertstoffe und Hausmüll – werden laut der europäischen Statistikbehörde Eurostat einer Wiederverwertung zugeführt. Das ist annähernd 100 Prozent oberhalb des amerikanischen und fast 50 Prozent oberhalb des europäischen Durchschnitts.

Hätte die Autoindustrie nicht so schläfrig auf die Idee einer elektrischen Mobilität reagiert, wären die Deutschen längst umgestiegen. Laut einer Umfrage von „Bitkom Research“ haben sich zwei Drittel der Deutschen mit dem Gedanken an den Kauf eines Elektroautos „angefreundet“. 42 Prozent befürworten sogar „ein Verbot des Verbrennungsmotors bis spätesten 2050“.
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Das grüne Parteiprogramm hat längst umgeschwenkt. In ihrem Grundsatzprogramm 1980 fordern die Grünen noch die Kollektivierung der Wirtschaft: „Großkonzerne sind in überschaubare Betriebe zu entflechten, die von den dort Arbeitenden demokratisch selbstverwaltet werden.“ Vorrangiges Ziel sei der „Abbau von Akkord- und Fließbandarbeit und anderen Formen des Leistungsdrucks.“
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dpa
 
In ihrem neuen Leitantrag „Anders Wirtschaften für nachhaltigen Wohlstand“ klingt es nach grüner FDP: „Märkte können, wenn die Anreize richtig gesetzt sind, eine grüne Revolution entfachen, die unsere Vorstellungskraft auf die Probe stellen wird.“

Fazit: Die Berufsinstanz dieser schwarz-grünen Bürgerschaft bilden nicht Marx, Trotzki oder Bakunin, sondern Karls Poppers Philosophie der kleinen Schritte und die Verantwortungsethik eines Hans Jonas. Die Mitte der Gesellschaft ist nicht erodiert, wie viele Leitartikler immer wieder schreiben. Sie ist weitergewandert.
 
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Im Morning Briefing Podcast spreche ich mit dem Grünen-Urgestein Jürgen Trittin – auch über die Schizophrenie der Deutschen, die den Kurzurlaub auf Mallorca genauso lieben wie den Eisbären auf seiner Scholle. Trittin sagt:
Wir müssen Rahmenbedingungen schaffen, in denen Menschen sich vernünftig verhalten können.“
Das Erkennungszeichen der neuen Grünen ist für ihn: Mehr Pragmatismus – und „weniger Moral“. 

Über die „Fridays for Future“-Bewegung sagt er:
Ich finde, man kann sehr viel von solchen Bewegungen wie Fridays for Future lernen. Deren größte Waffe ist ihre Gebildetheit, Wohlerzogenheit und Höflichkeit. Und damit unterscheiden sie sich von vielen, die sie kritisieren.“
Und über die Prognose des Joschka Fischer, er sei der letzte Live-Rock’n Roller der deutschen Politik:
Er hat sich geirrt. Nach dem Rock’n Roll kam ja noch vieles: Punk, Hip-Hop und ähnliche Dinge. Und das ist ja vielleicht nicht ganz bei ihm angekommen.“
 
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Gleiches Thema, anderer Blickwinkel: Im Morning Briefing Podcast spreche ich mit der ehemaligen Biologielehrerin, späteren Fernsehfrau („Leute heute“) und heutigen UN-Umweltbotschafterin Nina Ruge, die heute Abend in Berlin als „Green Brands Germany“ Persönlichkeit geehrt wird. Die Bestseller-Autorin verkörpert ein technologieoffenes und vernunftbetontes Bürgertum jenseits von Verbotsideologie und Fanatismus.
Die deutsche Bevölkerung sagt: Wir wollen mittel- oder langfristig nur noch Fleisch essen von Tieren, die artgerecht gehalten worden sind. Wir wollen klimaneutral fahren. Wir wollen Technologien, die energieeffizient sind.“
Wir kommen nur zu dieser Vision, wenn wir sagen, man muss auch damit Geld verdienen können. Ich halte sehr viel von der Verhältnismäßigkeit der Mittel und von Marktorientierung.“
Das neue Denken muss technologieoffen sein.“ 
Warum sie gegen Verbote ist:
Verbote kommen aus der Haltung, man wisse schon, wie wir die große Vision erreichen. Es weiß aber noch niemand, was der beste Weg sein wird.“
Ihr Fazit: 
Man muss sich dessen bewusst sein, in großer Demut, dass wir Teil der Schöpfung sind. Es geht darum, der Natur, das, was ich ihr nehme, auch wieder zurückzugeben.“
 
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Die Ermittlungen im Amtsenthebungsverfahren gegen US-Präsident Donald Trump nehmen Fahrt auf. Gestern fand im US-Kongress die erste öffentliche Anhörung statt. Zwei Zeugen wurden befragt, US-Medien sprachen von einem „historischen“ Ereignis. Und Trump? Weilte im Weißen Haus und sagte, er sei zu beschäftigt, um sich die Anhörung anzusehen. „Es ist eine Hexenjagd.“

Derweil die links-liberalen Medien weltweit, in Deutschland vor allem die „Süddeutsche Zeitung”, den Eindruck erwecken, als sei Trump bereits am Ende, schütteln alle Kenner des US-Rechtssystems nur den Kopf. Immerhin: In der „SZ“ durfte die US-Historikerin Kathryn Olmsted, eine Watergate-Expertin, die Leserinnen und Leser über den tatsächlichen Sachstand aufklären:
Das Transkript des Telefonats mit dem ukrainischen Präsidenten reicht sicher, um Trump im Repräsentantenhaus zu impeachen. Aber damit der Senat ihn letztlich des Amtes enthebt, dafür braucht es eine Zweidrittelmehrheit. Die Republikaner und Trumps Basis stehen eisern hinter ihrem US-Präsidenten. Ich kann mir im Moment keine Art von Fehlverhalten vorstellen, das zu einer Amtsenthebung von Trump führen würde.“
 
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Die großen US-Technologiekonzerne greifen sich skrupellos hochsensible Patientendaten und umgehen damit auf dem elektronischen Weg die medizinische Schweigepflicht. Der Grund: Sie wollen Patienten in Kunden verwandeln.

Laut einer investigativen Recherche der „Financial Times“ gelangen Patientendaten von britischen Gesundheitswebsites, darunter personenbezogene Daten über Symptome, Diagnosen, eingenommene Medikamente sowie Informationen zu Menstruation und Fruchtbarkeit, an große Werbeanbieter wie Google, Amazon, Facebook oder Oracle.

79 Prozent dieser Daten wurden gegen Bezahlung an die interessierten Pharmakonzerne weitergegeben. Und dass, obwohl es seit 2018 in der EU verboten ist, an Werbetreibende die sensibelsten Daten – etwa Gesundheit und sexuelle Orientierung – ohne ausdrückliche Zustimmung weiterzugeben.

Andere Zeitung, gleicher Befund: Laut „Wall Street Journal“ sammeln Google, Amazon und Microsoft in den USA ebenfalls sensible Patientendaten zu Werbezwecken. Im Rahmen des Projektes „Nachtigall” schloss Google einen Vertrag mit Ascension, dem zweitgrößten Player im US-Gesundheitssystem, der rund 2600 Krankenhäuser und Arztpraxen betreibt, und bekommt so Zugriff auf Laborergebnisse, Arztdiagnosen und vollständige Krankengeschichten, einschließlich Patientennamen und Geburtsdaten.

Fazit: Der Staat muss hier keine neuen Verbote erfinden. Wohl aber muss er die bestehenden präzise exekutieren.
 
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In wenigen Wochen findet in Madrid die Weltklimakonferenz statt. Die „Fridays for Future“-Aktivistin Greta Thunberg muss sich beeilen. Die 16-jährige Schwedin hat sich jetzt mit dem Katamaran „La Vagabonde” einer australischen Familie auf den Weg gemacht. „Wir segeln nach Hause“, schrieb sie auf Twitter und Instagram. Ihr Skipper merkte an, dass er mit steifer Brise rechnet: „Der Nordatlantik ist zu dieser Jahreszeit ziemlich heimtückisch.“

Diese Strapazen hätte sich Greta sparen können. Stressfrei, zeitschonend und klimaneutral wäre sie in Madrid gelandet: auf einem der leeren Sitze bei United, Iberia oder Lufthansa, Hollywood-Video und Tomatensaft inklusive.

Ich wünsche Ihnen einen humorvollen Start in den neuen Tag. Es grüßt Sie auf das Herzlichste Ihr

Gabor Steingart
Journalist & Buchautor
 
 
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