Forsa-Realitätscheck: Die Macht des Nichtwählers
 

Gabor Steingart - Das Morning Briefing
12.11.2019
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Guten Morgen Günter Buchholz,
der entscheidende Faktor in der parlamentarischen Demokratie bleibt der Nichtwähler. Schauen wir nach Hannover: Belit Onay, der nach Fritz Kuhn zweite „grüne“ Oberbürgermeister in einer der urbanen Metropolen (Großstädte mit mehr als 500.000 Einwohnern), erfreut sich zwar an den 53 Prozent der Wählerstimmen, die er am Sonntag bei der Stichwahl erhalten hat. Doch von allen Wahlberechtigten in der Stadt haben ihn nur 23 Prozent gewählt – zweieinhalb mal mehr Wahlberechtigte aber (fast 57 Prozent einschließlich der ungültigen Stimmen) haben sich an der Wahl gar nicht beteiligt.
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Die „Partei der Nichtwähler“ war auch in Hannover wieder einmal stärkste politische Kraft, dabei war sie sogar kleiner als in vielen anderen Metropolen der Republik. An den letzten Oberbürgermeisterwahlen in Essen, Frankfurt am Main, Dortmund oder Leipzig beteiligten sich beispielsweise 70 oder sogar mehr als 70 Prozent der Wahlberechtigten gar nicht. Und trotzdem wurde von der CDU in Nordrhein-Westfalen etwa der Sieg in der angeblichen SPD-Bastion Essen bejubelt, als habe man das Ruhrgebiet entsozialdemokratisiert. 

Aber nicht nur in den großen Metropolen mit vielfältigen ökonomischen oder sozialen Problemen, sondern auch in eher beschaulichen Städten wie Flensburg beteiligen sich fast 70 Prozent nicht mehr an der Wahl ihres Stadtoberhauptes.
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Die Abstinenz an der Wahlurne ist aber kein Sonderfall. Drastisch angestiegen ist die Zahl der Nichtwähler auch generell bei Kommunalwahlen. In Hessen und Schleswig-Holstein, wo die Kommunalwahlen 2016 und 2018 nicht wie in vielen anderen Bundesländern mit der Europawahl gekoppelt waren, beteiligten sich flächendeckend mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten (rund 54 Prozent) nicht mehr an der Wahl der Stadt- beziehungsweise Gemeindeparlamente.

Dabei hatten sich in Hessen die Wähler vor der Einführung personalisierter Elemente bei den Kommunalwahlen 1981 mit noch fast 75 Prozent an der Wahl beteiligt. Und in Frankfurt am Main stieg der Anteil der Nichtwähler (einschließlich der ungültigen Stimmen) bis 2016 gar auf fast 63 Prozent. In Städten wie Flensburg oder Lübeck beteiligten sich 2018 sogar rund 65 Prozent nicht an der Kommunalwahl.
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In den Medien wird kaum über diese stark angestiegene große Zahl von Nichtwählern berichtet. Nach der Kommunalwahl in Frankfurt wurde ausführlich über die drei Prozent der Wahlberechtigten diskutiert, die der AfD ihre Stimme gegeben hatten, nicht aber über die zwanzigmal größere Gruppe der Nichtwähler.

Bei den seit der Bundestagswahl 2017 stattgefundenen Landtagswahlen wurden die Nichtwähler ebenfalls kaum beachtet – obwohl etwa in Bremen bei der Bürgerschaftswahl die Zahl der Nichtwähler fast zehnmal größer war als die Zahl der AfD-Wähler. Und auch in den ostdeutschen AfD-Hochburgen Brandenburg, Sachsen und Thüringen war die „Partei der Nichtwähler“ doppelt so groß oder noch größer als der Wähleranteil der AfD (einschließlich der Reste der NPD).
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Warum findet die relevanteste politische Gruppe so wenig Widerhall? Selbst bei Bundestagswahlen mit einer traditionell höheren Wahlbeteiligung als bei Landtags- und Kommunalwahlen stieg die Zahl der Nichtwähler von 11,7 Prozent im Jahr 1983 auf 30,1 Prozent bei der Bundestagswahl 2009. Der Rückgang der Wahlbeteiligung von über 18 Prozent ist – abgesehen von Portugal – in keinen der vergleichbaren westlichen Demokratien bei Wahlen zu den jeweiligen nationalen Parlamenten so groß wie in Deutschland.

Dass die Zahl der Nichtwähler bei der Bundestagswahl 2017 mit 24,6 Prozent (einschließlich der ungültigen Stimmen) niedriger war als 2009, ist nicht als positives Signal einer wieder größer gewordenen Akzeptanz des politischen Systems an sich zu werten. Vielmehr hat jene Gruppe der mit dem System nicht Zufriedenen, die – anders als die große Mehrheit der Nichtwähler – auch die Demokratie infrage stellen, 2017 die AfD gewählt, weil auch die das gegenwärtige System „überwinden“ will.
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Dabei sehen sich – anders als die inzwischen zur AfD gewanderten ehemaligen „Dauernichtwähler“ – die meisten derzeitigen Nichtwähler nur als „Wähler auf Urlaub“. Diese größte Gruppe der Nichtwähler ist keinesfalls apolitisch oder desinteressiert am Geschehen in ihrer Stadt oder Gemeinde, in ihrem jeweiligen Bundesland, in Deutschland oder in der Welt. Vielmehr verfolgen sie auch das politische Geschehen mit großem Interesse.

Unzufrieden aber sind sie mit der Art und Weise, wie viele politische Akteure heute Politik betreiben. Sie beklagen vor allem, dass die Politiker kein Ohr mehr haben für ihre wirklichen Sorgen, zu unverständlich reden, sich zu viel streiten und sich nicht mehr an den Bedürfnissen der Mehrheit, sondern an sich lautstark artikulierenden Minoritäten orientieren.

Die meisten Nichtwähler verorten sich – so heterogen sie auch hinsichtlich ihrer sozioökonomischen Struktur sind – in der politischen Mitte. Derzeit wollen auch die meisten der seit der Bundestagswahl 2017 von der Union abgewanderten Wähler aus dieser politischen und gesellschaftlichen Mitte nicht die AfD, sondern die Grünen wählen. Die meisten der frustrierten Ex-Unionswähler gehören mit 48 Prozent aber zum Lager der Nichtwähler.

Nichtwählen ist übrigens keine Altersfrage. Wie die jetzt vorliegende repräsentative Wahlstatistik des Bundeswahlleiters für die Europawahl zeigt, ist die „Partei der Nichtwähler“ in allen Altersklassen größer als die Zahl der Grünen- und erst recht der AfD-Wähler.
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Anders als die meisten AfD-Wähler aber sind diese Nichtwähler für die demokratischen Parteien noch nicht vollends, sondern nur dann verloren, wenn man sie weiter nicht beachtet oder vergrault.

Mit besten Grüßen Ihr

Manfred Güllner
Gründer und Geschäftsführer des Meinungsforschungsinstituts Forsa
 
 
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