Davos im Greta-Fieber | Scholz als Rächer der Entsparten
 

Gabor Steingart - Das Morning Briefing
20.01.2020
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Guten Morgen Tanja Welland,

Angela Merkels Eintrag im Geschichtsbuch der Weltpolitik ist um ein Kapitel reicher. Die Bundeskanzlerin hat mit der Berliner Libyen-Konferenz dem geschundenen Land eine Atempause verschafft. 

14 Staats- und Regierungschefs – darunter die politischen Schutzmächte der Konfliktparteien, Erdogan und Putin – hatte Merkel ins Kanzleramt geladen und über Stunden immer wieder einzeln zu Gesprächen zusammengebracht. Wie bei einem komplizierten Puzzle setzte die Kanzlerin mühsam die richtigen Teilchen zusammen.

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Die Ergebnisse: 

► Alle Teilnehmer des Sondergipfels verpflichten sich zur Einhaltung des seit 2011 geltenden – aber mehrfach gebrochenen – UN-Waffenembargos und sichern ein Ende der militärischen Unterstützung für die Bürgerkriegsparteien zu. 

► Alle Teilnehmer versprechen eine diplomatische Lösung des Konflikts. Die Vereinten Nationen sollen die Gespräche zwischen den Truppen des Rebellen-Generals Khalifa Haftar und dem Lager des Regierungschefs Fayez al-Sarraj koordinieren. 

► Der Warlord Haftar steigt nun offiziell zum Verhandlungspartner auf Augenhöhe mit dem Regierungschef in Tripolis, Sarraj, auf. Russlands Präsident Putin dürfte dies als seinen Erfolg verkaufen. 

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Angela Merkels Engagement hatte zwei Gründe:

Erstens: Libyen ist das Epizentrum der Flüchtlingsbewegungen nach Europa und die Küste der Hotspot der Schlepper-Industrie. Vor allem Flüchtlinge und Wirtschaftsmigranten aus der Sahelzone in Mittelafrika und dem Sudan gelangen über Libyen und über die zentrale Mittelmeerroute nach Italien. Die EU hat sich deshalb mit der libyschen Küstenwache verbündet, die umstritten aber wirksam Überfahrten verhindert. Kamen 2017 noch 119.000 Flüchtlinge in Italien an, waren es 2019 nur noch knapp 11.500 Menschen. Einen „failed state“ kann die Kanzlerin vor den Toren Europas nicht gebrauchen. 

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Zweitens: Libyen ist auch ökonomisch relevant. Mit mehr als sechs Milliarden Tonnen Reserven ist der Staat das ölreichste Land auf dem afrikanischen Kontinent und produzierte zuletzt eine Million Barrel Öl pro Tag – so viel wie Großbritannien. Libyen ist einer der wichtigsten Öl-Handelspartner Deutschlands, nur aus Norwegen und Russland importieren wir mehr (siehe Grafik). 

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Deutschland gilt in Libyen als „ehrlicher Makler“, wie der frühere deutsche Botschafter in Tripolis, Christian Buck, sagt. Auch weil sich  Deutschland mit dem damaligen Außenminister Guido Westerwelle 2011 bei der militärischen Intervention nach dem Sturz Gaddafis enthielt. Was damals für massive Kritik im westlichen Bündnis sorgte, ist heute ein Grund für die glaubwürdige Vermittlerrolle.

Fazit: Angela Merkel legt im Spätherbst ihrer Kanzlerschaft ihren lakonischen Pragmatismus ab und stürmt mit der Libyen-Initiative auf ein neues Spielfeld der Weltpolitik. Man wird sehen, ob ihr Mut sie auch in ein mögliches robustes UN-Mandat mit deutscher Beteiligung führt. Wie sagte der Rekord-Außenminister Hans-Dietrich Genscher:

Die Geschichte gewährt uns keine Pause, und erst recht gibt es kein Ende der Geschichte.“

 
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Die in Deutschland stationierten US-Truppen verstärken ihre Sicherheitsmaßnahmen. Einem Bericht der „Newsweek“ zufolge stehe ein Terror-Angriff auf einen der Militärstützpunkte „möglicherweise unmittelbar“ bevor. Im Bericht wird der Stützpunkt in Dülmen (NRW) und der Truppenübungsplatz in Grafenwöhr (Bayern) genannt.

„Newsweek“ zitiert aus einem Bericht, der an die in Wiesbaden stationierte Militär-Geheimdiensteinheit „66th Military Intelligence Brigade“ gerichtet ist. Darin heißt es: „Laut der Informationsquelle würde der Angriff von einem unbekannten jordanischen Extremisten durchgeführt werden, der sich derzeit in der Nähe einer unbekannten Militärbasis befindet.“
 
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Greta Thunberg ist im Olymp der Mächtigen angekommen. Die 17-jährige Klimaaktivistin ist der Stargast beim morgen beginnenden Weltwirtschaftsforum in Davos. Musste die junge Schwedin 2019 noch vor dem Konferenzzentrum in dem Schweizer Bergort campen und war nur als Video-Botschafterin im Vortrag von Al Gore zu sehen, steht sie bei der 50. Ausgabe des wichtigen Wirtschaftstreffens auf der Bühne. So wie Donald Trump, Angela Merkel und 51 andere Staats- und Regierungschefs unter den 3000 Teilnehmern. 

Der 81-jährige Gründer Klaus Schwab hat die Zeitenwende selbst ausgerufen, als er der Aktivistin im Vorfeld des Jubiläumstreffens einen Brief schrieb, über den der Dokumentarfilmer Marcus Vetter berichtete:

Wir haben mit einer finanziellen Krise angefangen, es wurde eine Wirtschaftskrise, dann eine soziale Krise. Es wird noch eine Generationenkrise werden.“ 

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1971, im ersten Jahr des Weltwirtschaftsgipfels, wollte Schwab den Stakeholder-Ansatz, den Austausch der Top-Manager mit Mitarbeitern, Kunden und anderen Interessengruppen, in dem „globalen Dorf“ in den Schweizer Alpen Wirklichkeit werden lassen. Nun kehrt er zu den Wurzeln zurück. In dem Brief an Thunberg heißt es weiter:

Wir brauchen Systemwandel, keinen Klimawandel. Ich werde die Teilnehmer eine Erklärung unterschreiben lassen, angepasst an die Verantwortung, die sie im Wirtschafts- und Finanzwesen und in der Politik tragen.“

Das Treffen der Top-Manager, einst als „Club der Bösen“ von linken NGOs diffamiert, wandelt sich zum Verein für Weltverbesserer

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Fazit: Der liberale Ökonom Milton Friedman hatte Unrecht, als er behauptete: „Das Geschäft des Unternehmens ist das Geschäft.“ Das Geschäft des Unternehmens ist gesellschaftliche Akzeptanz. Die neuen Mächtigen haben keine Milliarden auf dem Konto und keinen Privatjet im Hangar. Ihr Eckbüro ist die Straße. Unter dem Arm haben sie das Pappschild. Im Gepäck den Zeitgeist.

 

Heute treffen sich in Brüssel erstmals Vertreter der neuen EU-Kommission mit den Euro-Finanzministern. Dabei geht es auch um das Eine-Billion-Euro-Projekt der Kommission. Mit dieser gigantischen Summe, fast ein Drittel der jährlichen Wirtschaftsleistung Deutschlands, will die Europäische Union bis 2030 den Green New Deal finanzieren.  

Der Motor dieser Operation ist eine Institution, die viele Bürger gar nicht kennen: Die Europäische Investitionsbank, kurz EIB, soll diese Summe bereitstellen. Die Förderbank der 27 EU-Staaten verfolgt damit das ehrgeizigste Klimaschutzprojekt aller öffentlichen Geldinstitute. Unumstritten ist die staatlich gelenkte Kreditvergabe an „grüne“ Projekte aber nicht. 

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Im Morning Briefing Podcast  spreche ich darüber mit dem FDP-Politiker und Präsidenten der Investitionsbank, Dr. Werner Hoyer. Er sagt:

Wir müssen diese Klimapolitik auch als Business-Model verstehen, indem wir mit der Innovation vorangehen.“ 

Dass die Europäische Investitionsbank mit ihrer politischen Klassifizierung der zu finanzierenden Projekte massiv in die Marktwirtschaft eingreift, lässt Hoyer nicht gelten. Er argumentiert:

Dass das Ziel berechtigt ist, das wird man nicht bestreiten können. In den letzten zwölf Monaten ist in Deutschland, aber auch überall in der Europäischen Union, das Thema Klimawandel in den Vordergrund des Bewusstseins der Menschen gerückt.“ 

Wir sind gut beraten, das Thema ernstzunehmen und die erheblichen Katastrophen, die wir gegenwärtig beobachten können, von Spanien über Skandinavien, Australien oder Brasilien, als Warnsignal zu verstehen.“

Dass sich manch ein großer Kohlekonzern einzelne „grüne“ Projekte mit Milliarden von der EU-Bank finanzieren lassen könnte, sieht aber auch Hoyer als Problem: 

Das ist eine ganz schwierige Gratwanderung. Auf der anderen Seite muss man auch sehen, dass wir auf diese Energieversorgungsunternehmen angewiesen sind. Wenn sie dann auf die Idee kommen, zu sagen, wir steigen jetzt mal auf neue Technologien um, finde ich, sollte man sie nicht diskriminieren.“

 
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Olaf Scholz will Bankhäuser, die negative Einlagezinsen an die Sparer weitergeben wollen, einen Riegel vorschieben. Eine bereits im August in Auftrag gegebene Prüfung des Finanzministeriums hat nun laut „Passauer Neue Presse“ offenbar ergeben, dass es für eine Weitergabe zumindest an Bestandskunden keine rechtliche Grundlage gebe.

Konkret hieße das, dass es für Banken „schon auf Basis der geltenden Rechtslage mit hohen rechtlichen Risiken behaftet ist, innerhalb bestehender Verträge die Aufwendungen für Negativzinsen einseitig an ihre Kunden weiterzugeben“, so eine laut Scholz veranlasste Prüfung. Über entsprechende Mittel, die Banken an dieser Praxis zu hindern, verfüge die Finanzaufsicht BaFin. 

Fazit: Der Finanzminister schwingt sich als Rächer der Entsparten auf. Doch seine Gutachten laufen ins Leere. Die bislang erlassenen Strafzinsen gelten meist für Neu- und nicht für Bestandskunden. Mit denen müssen die Banken Änderungen individuell besprechen.

 
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Europas ältester Pharmakonzern Merck will sich nach einer Phase der Expansion erst einmal wieder sortieren. In den kommenden zwei Jahren will das Darmstädter Familienunternehmen auf Zukäufe verzichten, kündigte Vorstandschef Stefan Oschmann im „Handelsblatt“ an. In den vergangenen Jahren hatte sich Merck durch milliardenschwere Zukäufe und Desinvestitionen zu einem „hidden champion“ in der Biotech- und Halbleiterindustrie entwickelt. In der Pharmasparte hoffen die Darmstädter auf den Durchbruch eines mit dem US-Konzern GlaxoSmithkline entwickelten Krebs-Medikaments. 

Die noch wichtigere Botschaft verkündete Mercks Vorstandschef nicht im „Handelsblatt“, sondern auf der Bühne der Digital- und Innovationskonferenz DLD in München. Dort präsentierte sich der 62-Jährige gestern als digitaler Antreiber von Politik und Wirtschaft. Deutschland müsse dringend die Rahmenbedingungen für Innovation verbessern und über neue Technologien sprechen, mahnte er. Und er kritisierte: 

Es fehlt an einem funktionierenden Innovations-Ökosystem. Technologische Entwicklungen wie Quantencomputer bieten der Menschheit Chancen für beispiellosen Fortschritt. Doch die Aufgaben, die dafür gelöst werden müssten, sind enorm.“ 

Fazit: Nur wer den Wandel will, kann ihn gestalten. Oder wie es der US-amerikanische Komponist John Cage gesagt hat: „Ich verstehe nicht, warum Menschen Angst vor neuen Ideen haben. Ich habe Angst vor den alten.“ 

 

Die Podcast-Familie von unserem kleinen Start-up „Media Pioneer“, das auch dieses Morning Briefing produziert, wächst: 

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Ab heute werden Sie – wenn Sie mögen – unsere Finanz-Expertin Sophie Schimansky nicht nur in ihrer täglichen Börsen-Rubrik im Morning Briefing Podcast  hören, sondern auch ausführlich in ihrem neuen Wochenformat. 

Immer montags wird unsere Kollegin im Wall Street Weekly  einen überraschenden und tiefergehenden Einblick in die Trends und Themen auf dem wichtigsten Börsenparkett der Welt geben. Sie spricht mit Analysten und Finanz-Experten, lauscht den CEOs bei ihren Telefonschalten und gibt gewohnt fundierte Einschätzungen und Analysen. Ihre Premiere feiert Sophie – wie könnte es in dieser Woche anders sein – mit dem Weltwirtschaftsforum in Davos. Gemeinsam mit der Management-Professorin Sinziana Dorobantu von der New York University spricht sie über die Mega-Thema Klimaschutz und Nachhaltigkeit, die auf der Agenda in den Schweizer Alpen dominiert.

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Kluge Ökonomen gibt es viele. Klug und kontrovers argumentierende Ökonomen nur wenige. Einer ist Dr. Daniel Stelter. Der Publizist, Blogger und promovierte Volkswirt ist ein echter Contrarian. Er führt die Zuhörer in seinem Podcast Beyond the obvious  in genau diese Richtung: jenseits des Offensichtlichen. In der ersten Episode gibt Stelter einen ökonomischen Ausblick in die kommende Dekade und kommt zu der überraschenden Erkenntnis, dass die Handelspolitik und der US-Präsident weniger miteinander zu tun haben als gedacht. 

Mein Fazit: Man muss nicht jeder von Stelters ökonomischen Thesen folgen. Aber man sollte sie kennen.

Die beiden Podcasts finden Sie unter wall-street-weekly.com  wie auch unter think-beyondtheobvious.com  sowie über alle großen Podcast-Kanäle wie Apple, Spotify oder Deezer.

 
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Saudi-Arabien ist aus westlicher Sicht ein Schurkenstaat. Regelmäßig lässt das autoritär regierte islamische Königreich Regimegegner und Kriminelle hinrichten. Auch Frauen, die Ehebruch begangen haben, droht laut Amnesty International in dem Wüstenstaat die Todesstrafe. Weltweites Entsetzen löste Riad aus, als es den saudi-arabischen Journalisten und Regime-Kritiker Jamal Kashoggi in der saudischen Botschaft in Istanbul ermorden ließ. „Saudi-Arabien ist eine Sklavengesellschaft“, empörte sich „Die Zeit“ schon Ende 2018.

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Deutsche Intellektuelle helfen nun trotzdem munter mit, aus Riad eine Art nahöstliche Kulturhauptstadt zu machen. Die Abteilung für Auswärtige Kulturpolitik im Auswärtigen Amt ist bereits mit den gigantischen Neubauplänen eines 500 mal 500 Meter großen Opernhauses befasst, das dann das größte Musikhaus der Welt wäre. Und der frühere Direktor der Internationalen Filmfestspiele Berlin („Berlinale“), Dieter Kosslick, soll als Berater für ein internationales Filmfestival in der saudischen Hauptstadt fungieren. Eine „Saudinale“ quasi. Kultur kennt offenbar keine Grenzen. 

In diesem Sinne wünsche ich einen heiteren Start in die neue Woche. Ihr


Michael Bröcker, Chefredakteur Media Pioneer
(in Vertretung für Gabor Steingart)