Kukies hat Scholz nicht informiert | Kühnert geht
 

Gabor Steingart - Das Morning Briefing
05.08.2020
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Guten Morgen Ulrich Rose,

Helmut Schmidt hat als Bundeskanzler ein Wort mit Leben erfüllt, das Max Weber eigens für ihn erfunden zu haben schien: Realpolitik.

Der große deutsche Soziologe hielt am 28. Januar des Jahres 1919 vor weniger als 100 Zuhörern in dem schmalen, düsteren Münchner Kunstsaal Steinicke eine Rede, die Schmidt und vielen anderen Politikern als ethische Handlungsanweisung diente. Es ging in dieser Rede, die den Titel „Politik als Beruf“ trug, darum zu definieren, was für ein Mensch man sein müsse, „um seine Hand in die Speichen des Rades der Geschichte legen zu dürfen.“

Dieser Idealtypus des Politikers dürfe kein „Windbeutel“ sein. Er habe „täglich und stündlich“ einen „trivialen, allzu menschlichen Feind zu überwinden: die ganz gemeine Eitelkeit.“ Und wenn er das geschafft habe, müsse er zu den „drei Qualitäten“ vorstoßen, die entscheidend seien für den erfolgreichen Politiker: „Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß.

Womit wir bei Jens Spahn wären. Er ist mit seinen 40 Jahren noch kein zweiter Helmut Schmidt, aber er ist mit seiner freundlichen Striktheit, einer konservativ grundierten Liberalität und einer Streitlust, die den Andersdenkenden ein- und nicht ausschließt, ein Politikertyp, der dabei ist, in die Max-Weber-Klasse vorzustoßen. Den überehrgeizigen Ichling, den Zuspitzer, den trickreichen Spieler aus Zeiten der Jungen Union jedenfalls hat er hinter sich gelassen. Während er noch versucht, Corona kleinzukriegen, hat die Politik der Pandemie ihn erhöht.

In seinem Ministerium traf ich gestern einen Jens Spahn, der darum bemüht ist, seine Entschlossenheit mit Dialogfähigkeit zu verbinden – angesichts einer Gesellschaft, die driftet. Spahn erläutert seinen Freiheitsbegriff:

Ich trage die Maske in freier Entscheidung, weil für mich Freiheit mit Verantwortung einhergeht, Verantwortung für mich und Verantwortung für andere.“

Ich lasse mir diesen Freiheitsbegriff nicht von einer Seite wegnehmen.“

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Trotz aller Gegensätzlichkeiten, die auch politische Unverträglichkeiten einschließen, beteiligt er sich nicht an der Ausgrenzung von Andersdenkenden. Anders als die SPD-Vorsitzende sieht er im Berliner Tiergarten nicht nur Covidioten:

Es gibt nicht die eine Gruppe, die dort demonstriert hat, sondern es sind  unterschiedliche Gruppen, unterschiedliche Anliegen, unterschiedliche Motivationen.“ 

Fragen, die vorher schon da waren, werden noch mal konturierter.“

Und natürlich geht es auch um die Wahrnehmung von Interesse und die sehr unterschiedliche Sicht auf die Wirklichkeit:

Der Lungenfacharzt, der gerade zehn Patienten sterben gesehen oder am Beatmungsgerät mühsam vor dem Sterben gerettet hat, wird eine andere Einschätzung haben, als der Busunternehmer, der vor der Pleite steht.“

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Als besonders unfair empfindet es der Minister, dass der Rückgang der zunächst hohen Infektions- und Todeszahlen nun gegen ihn und seine Politik verwendet wird:

Das ist das Präventionsparadoxon: Mit der guten Lage stellt sich immer mehr die Frage: Müssen wir tatsächlich noch so weitermachen? Dabei schuf die Prävention erst die Voraussetzung für die gute Lage.“

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Kontrovers haben wir über die verschiedenen Maßstäbe der Regierungspolitik diskutiert. Denn das Abstandsgebot im Einzelhandel, in der Gastronomie und im Kulturleben kontrastiert mit der neuen alten Enge in der Bahn und bei der Lufthansa. Spahn sagt:

Natürlich ist es im Zweifel das Sicherste, überhaupt keine Bahn mehr fahren und keinen Flieger abheben zu lassen. Aber das wäre eine massive Einschränkung von Mobilität und von Freiheit.“

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Auch über die Möglichkeiten eines Dialogs haben wir gesprochen, um die allgemeine Sprachlosigkeit der Lager zu überwinden: 
Ich finde, es muss möglich sein, das Gespräch zu führen und zu finden. Wenn es da entsprechende Formate gibt, bin ich dabei.“
Fazit: Gute Politik beginnt mit der Anerkennung von Wirklichkeit, auch wenn diese im Plural auftritt. Darum bemüht sich Spahn, medizinisch und politisch. Max Weber hätte am hohen Rationalitätsgehalt dieses Ministers seine Freude gehabt: „Politik wird mit dem Kopf gemacht, nicht mit anderen Teilen des Körpers oder der Seele.
 
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Bayer erwirtschaftete im zweiten Quartal einen Milliardenverlust. Doch daran ist ausnahmsweise nicht Corona schuld – zumindest nicht hauptsächlich. Besonders die Glyphosat-Einigung, aber auch andere Rechtsstreitigkeiten reißen ein tiefes Loch ins Budget des Pharma- und Agrarkonzerns. Im zweiten Quartal hat Bayer vor allem deshalb 12,5 Milliarden Euro an Sonderaufwendungen bilanzieren müssen.

Unterm Strich blieb ein Rekordverlust von 9,5 Milliarden Euro. Die Börse reagierte diesmal nicht panisch, sondern cool: Die Aktie stieg um 1,85 Prozent.

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Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) ist nach eigener Aussage erst nach der Wirecard-Pleite im Juni von seinem Staatssekretär Jörg Kukies über ein Gespräch mit Konzernchef Markus Braun im vergangenen November 2019 informiert worden. Das geht aus dem Protokoll der Sitzung des Finanzausschusses des Deutschen Bundestages hervor, das unserem neuen Nachrichtenportal ThePioneer  vorliegt.

Der Finanzminister antwortete demnach auf die Frage danach, wann Kukies ihn über sein Treffen mit Braun am 5. November 2019 informiert habe: „Auf alle Fälle nicht vorher und auch nicht zeitnah danach. Meine und seine Erinnerung ist: im Rahmen der aktuellen Aufarbeitung der Fragestellung, also nicht in der Nähe des Gesprächs. Wir haben unser Gedächtnis wirklich hart gemartert und geguckt, ob es irgendwas gibt, aber uns ist nichts anderes eingefallen; das kann man jetzt mal so sagen.“

Scholz hatte in der vergangenen Woche vor dem Gremium Stellung zum Wirecard-Skandal genommen. Die ganze Geschichte lesen sie hier

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Als Covid-19 Mitte März die Wirtschaft lahmlegte, behielten die Führungskräfte der börsennotierten Konzerne die Nerven: Sie griffen so eifrig an der Börse zu wie seit neun Jahren nicht und trafen damit sehr genau das Korrekturtief

Ausweislich des von der Finanzaufsicht BaFin dokumentierten Kaufverhaltens auf den Führungsetagen, hat sich die Stimmung mittlerweile gedreht, die Chefs Misstrauen offenbar der Börsenrally und ihrer Nachhaltigkeit.

55 börsennotierte Unternehmen haben im Juli Aktienverkäufe ihrer Führungskräfte gemeldet – so viele wie seit einem Jahr nicht mehr. 

➤ Zum größten Verkauf kam es beim Werbekonzern Ströer, wo der Sohn des Firmengründers und heutige geschäftsführende Gesellschafter Dirk Ströer sich von Aktien im Wert von 59,5 Millionen Euro trennte.

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➤ Auch Ralf Zeiger, Aufsichtsrat von SAP, baute im vergangenen Monat Positionen in Höhe von 28.000 Euro ab.

➤ Große Verkäufe gab es auch bei kleinen Unternehmen. Clemens Jakopitsch, Aufsichtsratschef des Onlineshops Windeln.de, trennte sich von Aktien im Wert von über 2,1 Millionen Euro.

Fazit: Die Börsenrally ist wahrscheinlich nicht zu Ende. Aber sie tritt in eine neue Phase, in der die Lust am Gewinn von der Angst vor dem Verlust gejagt wird.

 
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Der aus Deutschland stammende und an der amerikanischen Westküste lebende Investor Peter Thiel, einer der Ersten, der das ökonomische Potenzial von Facebook erkannte, meldet sich in seiner Heimat zurück. Er ist einer der prominenten Geldgeber eines 125 Millionen Euro schweren Wagniskapitalfonds für deutsche Hightech-Firmen.

Der Fonds mit dem Namen „Elevat3“, hinter dem der Start-up-Investor Christian Angermayer steht, soll sich auf den Bereich Tech fokussieren, also Künstliche Intelligenz, Raumfahrttechnologie, Internetsicherheit, Biotech, Blockchain und Fintech. 100 Millionen Euro wurden in zwei Wochen bei internationalen Family Offices eingesammelt. 

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Dass sich Angermayer, der 2000 mit dem Biotech-Unternehmen Ribopharma den Grundstock für sein Vermögen legte, sich auf Zukunft versteht, hat er mehrfach bewiesen. Mit der börsennotierten Mynaric und Isar Aerospace kann er bereits zwei der erfolgreichsten deutschen Spacetech-Firmen in seinem Portfolio vorzeigen.

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Nun greifen Thiel und Angermayer mit den Mitteln an, die in Deutschland bisher ausbaufähig sind: Kapital und Optimismus. Zu den Investoren zählen auch Deutsche-Bank-Aufsichtsrat Alexander Schütz und die Schweizer Armada Investment. 
 
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Die Ära Kevin Kühnert als Juso-Chef nähert sich dem Ende. Der 31-Jährige hat beschlossen, erwachsen zu werden. 2021 will er für den Bundestag kandidieren und damit aus der  Bezirksverordnetenversammlung Tempelhof-Schöneberg in die Bundesliga der Berufspolitiker wechseln.

Kühnert wird in der Ahnengalerie der Juso-Chefs als Bürgerschreck einen Ehrenplatz einnehmen. So wie die Vorgänger Johanna Uekermann („Unser eigentliches Ziel ist es, die kapitalistische Produktionsweise zu überwinden! Unser eigentliches Ziel ist der demokratische Sozialismus!“) und Klaus Uwe Benneter („Zu unserem Willen, konsequent sozialistische Politik zu betreiben, gehört auch, dass wir die SPD insgesamt zu einer konsequent sozialistischen Partei machen wollen.“) wusste auch er, innerhalb seiner Zielgruppe mit sozialistischen Parolen zu punkten:

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Mir ist weniger wichtig, ob am Ende auf dem Klingelschild von BMW,staatlicher Automobilbetrieb‘ steht oder ,genossenschaftlicher Automobilbetrieb‘ oder ob das Kollektiv entscheidet, dass es BMW in dieser Form nicht mehr braucht.“
Konsequent zu Ende gedacht, sollte jeder maximal den Wohnraum besitzen, in dem er selbst wohnt.“

Ohne Kollektivierung ist eine Überwindung des Kapitalismus nicht denkbar.“

Doch dabei beließ er es nicht. Kühnert setzte noch eins drauf und behauptete, dass der Sozialismus „kein autoritäres Konzept“ sei. So steigerte er die Attraktivität der Jugendorganisation und legte zugleich die Schwächen der Traditionspartei SPD frei. Denn anders als seine Vorgänger stieß Kühnert nicht mehr auf ein Parteiestablishment, das ihn zurechtwies.

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Juso-Chef Gerhard Schröder wurde vom Parteivorsitzenden Willy Brandt gestutzt. Die Junior-Chefin Johanna Uekermann fand in Parteichef Sigmar Gabriel ihren Lehrherren. Der Juso-Chef Karl Benneter wurde unter Führung des Parteivorsitzenden Willy Brandt aus der SPD geworfen.

Kevin hingegen sorgte im Hintergrund dafür, dass Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans Parteichefs werden konnten. Damit wurde das Links-Rechts-Wechselspiel der Antagonisten beendet. Kühnerts Stärke offenbarte somit die Schwäche der SPD.

Ich wünsche Ihnen einen fröhlichen Start in diesen neuen Tag. Es grüßt Sie herzlichst Ihr


Gabor Steingart
Journalist & Buchautor
 
 
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