Sigmar Gabriel: SPD verkungelt Jobs
 

Gabor Steingart - Das Morning Briefing
15.05.2020
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Guten Morgen Stefan Pfeiffer,

die deutsche Volkswirtschaft ist in eine tragische Zangenbewegung geraten. Die ökonomischen Notwendigkeiten passen nicht zu den finanziellen Möglichkeiten. Der Retterstaat unterliegt einer autoritären Versuchung. 

Einerseits sinken die Wirtschaftsleistungminus 6,3 Prozent gegenüber Vorjahr – und die Steuereinnahmen – minus 81,5 Milliarden Euro gegenüber 2019.

Andererseits markiert ausgerechnet ein derart geschwächter Staat den starken Max. Finanzminister Olaf Scholz hat im Superman-Kostüm seinen Auftritt. Er pumpt Geld in die privaten Haushalte und flächendeckend in die Unternehmen. Er rettet die Bahn (sieben Milliarden Euro sind im Gespräch), die Lufthansa (mit womöglich sechs Milliarden Euro direkt vom Staat) und stellt insgesamt an direkten Hilfen und Bürgschaften ein Volumen von 1,2 Billionen Euro zur Verfügung.

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Das finanzielle Resultat ist beängstigend und trägt den Keim eines politischen Verteilungskonfliktes in sich, wie ihn Deutschland seit den wilden Weimarer Tagen nicht mehr erlebt hat. Denn:  

► Die Reserven der Sozialkassen werden teils aufgelöst, teils gravierend reduziert. Leistungskürzungen auf breiter Front oder höhere Beiträge von Arbeitgebern und Arbeitnehmern dürften bald fällig werden.

► Steigende Ausgaben bei schrumpfenden Einnahmen führen unweigerlich zu einem rasanten Anstieg der Staatsverschuldung.
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► Alle drei denkbaren Antworten – Steuererhöhung, Teilentgeignung der Vermögenden und Inflation – führen zur innenpolitischen Polarisierung

So weit, so problematisch. Doch die wahre Überforderung des Staates ergibt sich nicht allein aus der Rezession, sondern aus dem tiefen Fall jener Branchen, für die es keine Rückkehr zur Normalität geben wird. Denn das V-Szenario, tief runter und schnell raus aus der Krise, wird für wichtige Sektoren der Volkswirtschaft nicht wahr werden:

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► Die Luftfahrtbranche ist weltweit ein Kandidat für staatliches Engagement: Aufgrund der Reisebeschränkungen ist der Passagierflugverkehr in vielen Ländern fast zum Erliegen gekommen. Neue Abstands- und Hygieneregeln kosten alle Fluggesellschaften den ohnehin schmalen Profit. Das Programm der kommenden Jahre heißt: gesundschrumpfen, fusionieren, verstaatlichen.
 
► Auch die Tourismusbranche, mit dem Weltkonzern Tui und den Reisebüros im Zentrum, ist akut bedroht. Bei vielen wird die Liquidität knapp. Eine Rückkehr zum Massentourismus mit vollen Flugzeugen und nicht minder vollen Strandabschnitten in Südeuropa ist bis auf Weiteres nicht denkbar.

► Der Messebetrieb, der für viele Regionen ein Konjunkturmotor ist, dürfte so schnell nicht zurückkehren. Durch den Ausbruch des Virus wurden in Deutschland mehr als 460 Messen verschoben oder abgesagt. Das führt nach Schätzungen des Research Institute for Exhibition and Live-Communication zu einem Gesamtschaden für die Messewirtschaft von über 1,6 Milliarden Euro. Die Perspektive des Messebetriebes: Verkleinern und dann digitalisieren.

► Die Kulturbranche ist auf absehbare Zeit kein Geschäft mehr: Das Kompetenzzentrum Kultur- und Kreativwirtschaft des Bundes hat eine erste Analyse zur Betroffenheit der Kultur- und Kreativwirtschaft von der Corona-Pandemie vorgelegt: Im schlimmsten Fall drohen Einbußen von 70 bis 80 Prozent der jährlichen Einnahmen. Schnelle Erholung ist angesichts der anhaltenden Pandemie – ein Impfstoff ist womöglich erst in zwei Jahren vorhanden – nicht in Sicht.

► Auch die Stahlindustrie wird niemand sterben lassen wollen. Das aber bedeutet: ThyssenKrupp muss subventioniert werden, wahrscheinlich dauerhaft. Um finanziell über die Runden zu kommen, hat sich der Konzern einen Kredit über eine Milliarde Euro aus dem Sonderprogramm der Förderbank KfW gesichert.

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dpa
 
„The Economist“ hat in seiner Titelstory „The 90% economy“ den Sachverhalt treffend beschrieben :

Staatliche Programme, die darauf abzielen, dauerhaft Arbeitsplätze zu erhalten, laufen Gefahr, Zombiefirmen zu schaffen, die weder florieren noch in Konkurs gehen.

Fazit: Der Staat verhebt sich. Was der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck in der Flüchtlingskrise sagte – „Unser Herz ist weit. Doch unsere Möglichkeiten sind endlich.“ – trifft auch in diesen Tagen wieder zu. Der Staat kann keinen Wohlstand schaffen, nur eine Wohlstandsillusion.

 
Dazu passt das bizarre Wirtschaftsverständnis, das SPD-Chefin Saskia Esken jetzt offenbarte. Sie glaubt, nicht durch Fleiß und Anstrengung in der Privatwirtschaft, sondern durch den Verzehr von Steuergeld seitens der Politiker entstehe Wohlstand. Als auf Twitter ein Nutzer ihr schreibt – “Ich arbeite im Einzelhandel und finanziere damit einen Teil ihrer Diäten.“ – antwortet sie ihm tollkühn:
Und ich zahle daraus nicht nur Steuern, ich kaufe davon auch jeden Tag ein. Wer finanziert jetzt wen?
Alarmstufe rot: Die deutsche Bildungsmisere hat sich bis in die Spitze des Parteienstaates durchgefressen. Unverzüglich kommt einem die alte Idee, Wirtschaft als Unterrichtsfach zu etablieren, in den Sinn. Auch Schnellkurse in der Erwachsenenbildung wären sinnvoll – im Fall von Saskia Esken gern auch kostenlos. Die Frau ist bedürftig.
 
Die Corona-Krise hat die Geschäfte der deutschen Börsenschwergewichte im ersten Quartal spürbar gebremst. Der operative Gewinn der Dax-Konzerne brach gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 24 Prozent auf zusammengerechnet rund 20,3 Milliarden Euro ein, wie aus einer Auswertung des Beratungs- und Prüfungsunternehmens EY hervorgeht.
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Elf Dax-Unternehmen schafften immerhin ein Gewinnplus, darunter der Pharma- und Chemiekonzern Merck (+89 Prozent), der Energieriese RWE (+68 Prozent) und der Pharma- und Agrarchemiekonzern Bayer (+40 Prozent). Einen Absturz erlebte die Lufthansa (-257 Prozent), deutliche Gewinnrückgänge verzeichneten Adidas (-93 Prozent) und die Autobauer Volkswagen (-77 Prozent) und Daimler (-78 Prozent). 

Das Beunruhigende: In den Geschäftszahlen der Dax-Konzerne zum ersten Quartal spiegelt sich die Covid-19-Pandemie nur zum Teil wieder. Deutlich schlechter dürfte das kommende Vierteljahr ausfallen. Auch bei den Gewinneinbrüchen gibt es eine zweite Welle. 

 
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Credit: Marco Urban
 

Sigmar Gabriel ist der Politik-Aussteiger des Jahres 2019. Über seine Erfahrungen in der ihm bisher verschlossenen Außenwelt und seinem Blick auf die anderen Aussteiger, als da wären Johannes Kahrs und Andrea Nahles, hat mein Kollege Michael Bröcker mit ihm an Bord der Pioneer One gesprochen.

Über seine neue Karriere als Vorsitzender der Atlantik-Brücke und Mitglied im Aufsichtsrat der Deutschen Bank sagt er im Morning Briefing Podcast 

Das Einzige, was ich sagen kann, ist, dass ich relativ stolz darauf bin, dass ich diesen Neustart aus eigener Kraft geschafft habe. Ich habe nicht versucht, über alte Beziehungen was zu machen oder Versorgungsjobs zu bekommen. Das schafft Selbstbewusstsein.

Über die Anschlussverwendung seiner Parteikollegin als Präsidentin der Bundesanstalt für Post und Telekommunikation sagt er:

Ich bin bekanntermaßen kein großer Freund von Andrea Nahles. Aber eins ist doch klar: Das ist ein großes politisches Talent. Ich habe mir für sie erhofft, dass es andere Tätigkeiten gibt, wo sie vielleicht auch nur mit Hilfe der Politik reingekommen wäre, die aber ihrer Leistungsfähigkeit angemessen gewesen wären.

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Credit: Marco Urban
 

Dass die SPD ihr Spitzenpersonal immer wieder lustvoll demontiert, erklärt sich Gabriel so:

Einer der Gründe ist, dass die SPD in den letzten Jahrzehnten zunehmend eine Partei geworden ist, die in wesentlichen Teilen von Leuten getragen wird, die zu Hause keine Wahlkreise mehr gewinnen.

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Über den Wechsel von der SPD zur Deutschen Bank und nicht zum Verband der Automobilwirtschaft, sagt er:

Wenn es mir ums Geld gegangen wäre, dann hätte ich den angebotenen Job bei der Automobilindustrie angenommen.

Aber ich wollte kein Lobbyist werden und ich wollte nicht an die Türen klopfen müssen, hinter denen ich selber mal gesessen habe.“ 

 
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Heute lesen Pioneers im Hauptstadt Briefing 

► Die Fleischindustrie muss wegen der Häufung der Corona-Fälle mit schärferen Auflagen rechnen, die bis in die private Wohnung reichen. Am Montag entscheidet die Regierung, der Entwurf liegt meinen Kollegen vorab vor. 

► Die Fahrbereitschaft des Bundestages soll stehen bleiben. Auch Bundeskanzlerin Merkel soll sich im Regierungsviertel möglichst zu Fuß bewegen. Das „Corona-Kabinett“ hat einen Verhaltenskodex für Mitglieder des Bundestags und Behörden erlassen. Meine Kollegen Michael Bröcker und Gordon Repinski beschreiben die Details.

 
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dpa
 

Mit seinem Vatikan-Drama „Der Stellvertreter“ hat Rolf Hochhuth Theatergeschichte geschrieben. Das Stück, das dem Papst eine Mitschuld am Holocaust gibt, löste 1963 einen Skandal aus – und wurde zum Welterfolg. Mit 89 Jahren ist der im hessischen Eschwege geborene Autor nun in Berlin gestorben. Bis ins hohe Alter hatte Hochhuth nur wenig von seiner notorischen Kampfeslust verloren, wie die Nachrufe heute Morgen dokumentieren.

Katrin Bettina Müller in der taz:  

Am Ende war sein Ruhm der eines Starrkopfs und Querulanten.“

Daniele Muscionico in der „Neuen Zürcher Zeitung

Der letzte große deutsche Wüterich des Theaters ist nicht mehr. Mit ihm verliert die Bühne einen Moralisten, wie es ihn heute nicht mehr gibt.“

„Unser Luther?“, fragt Autor Simon Strauss in der „FAZ und schreibt: 

Die Lust am dramaturgisch geschickten Tobsuchtsanfall hat ihn nie verlassen.

 
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Erstens. Norbert Reithofer steht auch in Zukunft dem BMW-Aufsichtsrat vor. Er wurde im Anschluss an die Hauptversammlung für weitere fünf Jahre zum Vorsitzenden des Gremiums gewählt. Überraschung: Anke Schäferkordt zieht neu in den Aufsichtsrat ein. Die Medienmanagerin folgt auf Renate Köcher, die ihr Mandat „vorzeitig im Einvernehmen mit dem Aufsichtsrat“ niedergelegt habe, wie es hieß.

Zweitens. Der Bundestag beginnt ab 11.10 Uhr mit der parlamentarischen Beratung des Gesetzes über eine Grundrente. Diese soll Menschen zugutekommen, die viele Jahre nur geringe Beiträge in die Rentenkasse eingezahlt haben, weil sie wenig verdient haben. Rund 1,3 Millionen Menschen könnten profitieren.

Drittens. Die Europäische Union und Großbritannien beenden eine weitere einwöchige Verhandlungsrunde über ihre künftigen Beziehungen nach dem Brexit. EU-Unterhändler Michel Barnier will bei einer Pressekonferenz ab 13 Uhr Zwischenbilanz ziehen.

Viertens. Wenige Monate vor der geplanten Eröffnung des neuen Hauptstadtflughafens BER verschärft die konjunkturelle Krise die Geldprobleme der staatlichen Betreibergesellschaft. Der Aufsichtsrat berät heute in Schönefeld über den Jahresabschluss 2019 und den künftigen Finanzbedarf.

Fünftens. Wirte in Österreich dürfen ihre Restaurants, Lokale und Kneipen heute nach einer 59 Tage langen, Corona-bedingten Zwangspause wieder öffnen. Beim Neustart müssen die Gaststätten aber einige Sicherheitsvorkehrungen beachten. So muss zwischen den Tischen ein Mindestabstand von einem Meter eingehalten werden, Kellner müssen zudem einen Mund-Nasen-Schutz tragen.

 
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Der Sänger und Komponist der „Scorpions“ Klaus Meine war gestern an Bord der PioneerOne. Wir haben über Gott und die Welt gesprochen und auch über die umhergeisternde Verschwörungstheorie, nicht Klaus Meine, sondern die CIA habe „Wind of Change” komponiert und getextet, um den Zerfall des Ostblocks zu befördern. 
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Credit: Marco Urban
 
Wenn Sie die wahre Geschichte und der bisher noch auf keiner Streaming-Plattform veröffentlichte Corona-Song der „Scorpions“ – „Sign of Hope“ – interessiert, lade ich Sie ein, zu einem Sonder-Podcast heute ab 11.30 Uhr. Prädikat: unterhaltsam. Und der neue Song ist ein echter Stimmungsaufheller in schwieriger Zeit. Solange noch kein Impfstoff erfunden ist, empfehle ich „Sign of Hope“. Dreimal täglich. Garantiert ohne Nebenwirkung.
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Credit: Marco Urban
 
Ich wünsche Ihnen einen hoffnungsfrohen Start in das Wochenende. Es grüßt Sie auf das Herzlichste Ihr

Gabor Steingart
Journalist & Buchautor
 
 
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In der vierten Ausgabe der „Überstunde” spricht die „Fridays for Future“-Aktivistin Carla Reemtsma mit Marina Weisband und Michael Bröcker über das Thema „Generationen“.
 
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In der aktuellen Ausgabe unseres neuen Podcasts spricht Prof. Dr. Martin Schröder zu uns. Der Soziologe fordert uns auf, der Datenlage mehr zu vertrauen als unserem Bauchgefühl.
 
Tech-Briefing
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