Wahldebakel in Iowa | Merz tritt an
 

Gabor Steingart - Das Morning Briefing
04.02.2020
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Credit: Marco Urban
Guten Morgen Rüdiger Stobbe,
das liebste Arbeitsinstrument vieler Journalisten ist die Schublade. Den medialen Pluralismus erkennt man daran, dass jeder seine Eigene hat.

Es gibt eine Schublade für Hoffnungsträger, die sich John F. Kennedy und Barack Obama zeitweise mit Martin Schulz teilen mussten. Und es gibt eine für Populisten, die mittlerweile rappelvoll ist, weil hier Donald Trump auf Boris Johnson trifft, Hans-Georg Maaßen auf Oskar Lafontaine – und weiter vorn schaut uns mit weit aufgerissenen Augen Greta Thunberg an.

Nur in den lichten Momenten des Gewerbes wird die Schublade wieder geöffnet und noch einmal umsortiert. Womit wir bei Sebastian Kurz wären. Gestern noch – in der Koalition mit der leicht klebrigen FPÖ – wurde sein Tun und Treiben als „Durchbruch für den rechtsextremen Populismus“ („De Standaard“, Belgien) beschrieben. Als er sich mit den Grünen zusammentat, durfte Kurz umziehen. Nun logiert der Bundeskanzler der Republik Österreich in der komfortabel wattierten Schublade mit der Aufschrift „Vorbild für ganz Europa“ („Bild“).

Gestern besuchte er im Bundeskanzleramt Angela Merkel und schaute danach im Morning Briefing Podcast Studio vorbei. Mit dem 33-Jährigen sprachen  mein Kollege Michael Bröcker und ich über Gott, Merkel und die Welt – vor allem die Welt der Flüchtlinge und der Schlepperbanden.
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Credit: Marco Urban
 
Über den Streit in der Flüchtlingspolitik zwischen Berlin und Wien sagt er:

Konflikt ist zu viel gesagt, Differenz trifft es eher. Wir sind 2015 zwei unterschiedliche Wege gegangen. Das ist der Hintergrund der Differenz. Und darüber hinaus gibt es dann ganz pragmatisch tagesaktuelle Entscheidungen, die zu treffen sind. Wie geht es weiter mit der Mission Sophia? Wie ist der Umgang mit geretteten Menschen im Mittelmeer?“

Der ÖVP-Politiker verbirgt seine aktuelle Unzufriedenheit nicht:  

Wir haben noch immer zu hohe Ankunftszahlen in Mitteleuropa und auch an der EU-Außengrenze. Es muss einfach die Politik, die mittlerweile Gott sei Dank eingeschlagen worden ist, noch konsequenter gegangen werden. Ich möchte das Glas aber halb voll sehen: Viele der Positionen, für die ich 2015 kritisiert worden bin, die als rechts gegolten haben, sind heute der Mainstream in der Europäischen Union.“

Den Kampf gegen illegale Migration schätzt er folgendermaßen ein:

Das Einzige, was wirkt, ist, illegale Fluchtrouten zu schließen. Das bedeutet, alles zu tun, dass jemand, der illegal aufbricht, der einen Schlepper bezahlt, nicht nach Mitteleuropa durchkommt. Es muss sichergestellt sein, dass, wenn jemand gerettet wird, er ins Herkunfts- oder Transitland zurückgebracht wird.“

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Über die Zustände in den libyschen Flüchtlingslagern macht er sich keine Illusionen: 
Je offener die Grenzen Europas sind, desto mehr Menschen leiden in den furchtbaren Flüchtlingslagern in Libyen. Wäre Libyen nicht das Tor nach Europa, gäbe es keinen Einzigen, der sich auf den Weg nach Libyen macht, um sich dort von Schleppern vergewaltigen, versklaven oder unterdrücken zu lassen.“
Dass Sebastian Kurz sich in der neu gebildeten Koalition mit den Grünen mit seiner Migrationspolitik durchsetzen konnte, liegt vor allem an der verabredeten Arbeitsteilung:

Wir haben eine neue Form der Kompromissfindung vereinbart. Es gibt Themenfelder, wo wir die Themenführerschaft haben, die Migration, die Sicherheitspolitik, die Steuer- und Standortpolitik. Aber gleichzeitig haben die Grünen die Verantwortung und auch den Lead in Fragen der Transparenz oder des Klimaschutzes. Das war wechselseitig herausfordernd, weil auch wir uns bewegen mussten.“

Im Fall einer weiteren Flüchtlingskrise gibt es in Österreich eine „Opting-out-Klausel“, die der ÖVP erlaubt, sich Mehrheiten im Parlament jenseits der Grünen zu suchen. Dazu sagt er:

Wir haben antizipiert, dass es, wenn es zu einer Krise kommen könnte, die Republik und die Regierung handlungsfähig bleiben müssen. Daher ein Krisenmechanismus, eine Sicherheitsklausel, dass wir im Fall der Fälle auch eine andere Parlamentsmehrheit im Bereich Migration und Asyl suchen dürfen. Ich gehe aber nicht davon aus, dass es dazu kommt.“

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Sein Verhältnis zu den Medien schätzt der junge Regierungschef so ein: 

Ich verstehe schon, dass in den Medien immer versucht wird, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Ich habe Zeitungen gelesen, die vor einem Jahr geschrieben haben, was ich für ein furchtbarer Rechter bin, weil ich mit der FPÖ koaliere. Jetzt schreiben sie, was ich für ein europäischer Vordenker bin, weil ich mit den Grünen koaliere. Ich kann es abkürzen: Ich bin genau derselbe wie vor einem Jahr.“

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Credit: Marco Urban
 
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dpa
 
Der Gewinner von Iowa steht noch nicht fest, technische Probleme machen es den Demokraten unmöglich das Votum ihrer Mitglieder zu veröffentlichen. Was für ein Fehlstart der Demokraten in die Präsidentschaftswahlen. Das gibt uns die Gelegenheit heute Morgen über die Verlierer der vergangenen Monate zu sprechen. Und die prominenteste Verliererin heißt Nancy Pelosi.
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Sie ist die Sprecherin des Repräsentantenhauses und seit dem Abgang Obamas die ranghöchste Demokratin. Mit großer Zielstrebigkeit hat sie die Partei in die Erstarrung geführt – politisch ideenlos und persönlich ohne Fortune. Es sind vor allem fünf Versäumnisse, die man ihr vorhalten muss:
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Erstens: Sie hat der Partei ein Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Trump zugemutet, dass nicht zu gewinnen war. Nicht einen einzigen republikanischen Senator konnte sie auf ihre Seite ziehen. Diese Niederlage war die am besten prognostizierbare Niederlage der jüngeren amerikanischen Geschichte.

Zweitens: Mit diesem Vorstoß hat sie zugleich die Bühne bereitet, auf der nun das Verhältnis von Vater und Sohn Biden zu mafiösen Strukturen in der Ukraine untersucht wird. Denn unstrittig ist, dass Sohn Hunter zur selben Zeit im Vorstand von Burisma, eine der größten Erdgasfirmen der Ukraine, saß, während sich sein Vater als Vizepräsident federführend um die Ukraine-Politik des Landes gekümmert hat. Das Trump-Lager freut sich schon auf die Filetierung seines Gegenkandidaten.
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Drittens: Pelosi hat es in ihrem Anti-Trump-Eifer nicht vermocht, der Partei oder wenigstens deren Repräsentanten auf Capitol Hill eine Vision von der Zukunft zu vermitteln. Die letzte programmatische Leistung der Demokraten stammt von Hillary Clinton, die, damals noch als First Lady, von Ehemann Bill beauftragt wurde, eine Gesundheitsreform vorzubereiten. Obama hat dieses Konzept später umgesetzt.

Viertens: Der Prozess einer geordneten Kandidatenaufstellung ist Pelosi entglitten, mit dem Ergebnis, dass sich noch immer elf Kandidaten duellieren und damit neun Monate vor der Präsidentschaftswahl selbst Verletzungen zufügen. Aussichtsreiche Nachwuchspolitiker wie Beto O’Rourke sind ausgeschieden. Abgehalfterte Kandidaten wie Bernie Sanders und Joe Biden schleppen sich zum letzten Gefecht, wissend, dass sie keine Chance haben, auch nur die eigenen Wählerbasis zu begeistern.
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Fünftens: Obwohl die Präsidentschaft von Donald Trump weltweit und auch innerhalb der USA Millionen von Menschen auf die Barrikaden bringt, sind es nicht die Barrikaden der Demokraten, auf denen sie stehen. Verkörperte Barack Obama „change and hope“, steht Pelosi für Verschlagenheit und die in Washington weit verbreitete Übung, die eigenen Prinzipien den jeweiligen Interessen unter zu ordnen. Getreu dem Washingtoner Ehrenkodex: „Those are my principles, and if you don't like them ... well, I have others.“
 
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Wenn denn überhaupt einer gegen Trump im November bestehen kann, dann ist es der Außenseiter Michael Bloomberg, den Pelosi nie auf dem Zettel hatte. Er ist ein Gegenkandidat aus eigener Kraft. Das Rennen der beiden New Yorker Milliardäre böte das, was jeder gute Thriller auch bietet: ein offenes Ende.
 
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Nun ist es offiziell, was manche in der CDU erhofften, andere fürchteten und die Vorsitzende wohl eher dulden muss. Friedrich Merz tritt im Jahr 2021 für den Bundestag an, nach dann zwölf Jahren parlamentarischer Abstinenz. Jedenfalls legt das ein Auftritt von Merz im niedersächsischen Verden nahe. Dort wurde der Christdemokrat erst gefeiert und dann vor rund tausend Gästen gefragt, ob er in der nächsten Legislaturperiode Kollege des örtlichen CDU-Bundestagsabgeordneten Andreas Mattfeldt sein werde. Merz zögerte und antwortete dann: „Ja“. Die Halle jubelte.

Damit demonstriert der 64-jährige Wirtschaftsfachmann vor allem eines: Er will nach der Ära Merkel aufs Spielfeld und nicht weiter von der Seitenlinie aus kommentieren.
 
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Der Coronavirus  hat Chinas Börsen infiziert. Die Furcht vor der Ausbreitung des Virus hat den Aktienmärkten die größten Verluste seit Jahren beschert. Die Shanghaier Börse meldete einen Kursrutsch um 7,72 Prozent und verlor damit innerhalb eines Handelstages 2,8 Billionen Yuan an Wert, umgerechnet etwa 360 Milliarden Euro. 

Der zweite Aktienmarkt des Landes im südchinesischen Shenzhen brach um 8,45 Prozent ein, was einen Verlust von zwei Billionen Yuan (260 Milliarden Euro) bedeutete. Es war der erste Handelstag nach den verlängerten Ferien zum chinesischen Neujahrsfest.
 
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Neuerdings prognostizieren die IWF-Experten für die nächsten beiden Jahre eine sich eintrübende Konjunktur. Die gesenkten Schätzungen seien vor allem der Entwicklung in Indien geschuldet, sagte Chefökonomin Gita Gopinath:
Es gibt für die Weltwirtschaft Abwärtsrisiken.“
Indiens Finanzministerin Nirmala Sitharaman (Foto) lehnt Finanzspritzen ab, um die heimische Konjunktur anzukurbeln. Die schwierige ökonomische Lage im Land führt dazu, dass die Ministerin die verordnete Defizitgrenze von 3,3 Prozent der Wirtschaftsleistung brechen muss. Gleichzeitig plant sie, Einfuhrzölle auf Alltagsgegenstände wie Küchen- und Elektrogeräte, Schuhe und Möbel zu erheben. Premierminister Narendra Modi will mit einer „Make in India“-Kampagne Millionen neuer Arbeitsplätze schaffen.

Doch der Protektionismus schreckt Investoren ab und bewirkt eher das Gegenteil: Die Arbeitslosigkeit legt zu, die Börse verliert. Auch für Indien gilt: Das Gegenteil von gut ist gut gemeint.
 
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Die Revolution ertüchtigt ihre Kinder. Heute vor 100 Jahren erhielten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland das Recht, Betriebsräte zu gründen. Ausgerechnet in den Wirren nach dem Esten Weltkrieg legte Deutschland das Fundament für den Sozialstaat: Achtstundentag, Tarifpartnerschaft, Mitbestimmung durch Betriebsräte. 

Die Mitbestimmung fand schon im Ersten Weltkrieg Anhänger. Das „Vaterländische Hilfsdienstgesetz“ sah im Jahr 1916 unter anderem vor, dass in kriegswichtigen gewerblichen Betrieben mit mehr als 50 Arbeitern Arbeiterausschüsse gebildet werden mussten. In der Weimarer Reichsverfassung von 1919 wurden sie schließlich verankert, und von der Nationalversammlung am 4. Februar 1920 das Betriebsrätegesetz verabschiedet.

Damals ging es den Arbeitern noch um die Zerschlagung der wirtschaftlichen Machtstrukturen, heute um betriebliche Mitgestaltung und demokratische Teilhabe. Der Marsch durch die Unternehmen war für Deutschland ein Marsch ins Glück. Damals hat man noch nicht alle fünf Minuten gesagt, „man müsse die Menschen mitnehmen“. Aber genau das hat man getan. Die Menschen danken es der Marktwirtschaft mit hoher Loyalität, bis heute. Glückwunsch Deutschland!

Ich wünsche Ihnen einen zuversichtlichen Start in den Tag. Es grüßt Sie auf das Herzlichste Ihr

Gabor Steingart
Journalist & Buchautor
 
 
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