Macron mischt Nato auf | Berliner „Bullshit-Bingo“
 

Gabor Steingart - Das Morning Briefing
29.11.2019
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Guten Morgen Andreas Dr. Andreas Unterberger,
die Farbe der Saison ist Grün und der Ton unserer Zeit die Sirene. In einer apokalyptisch gestimmten Welt möchte niemand seinen Einsatz verpassen, das Europäische Parlament schon gar nicht. In einem Akt grimmiger Entschlossenheit haben die Parlamentarier daher gestern den „Klimanotstand“, den „climate emergency“, „l'urgence climatique“ für Europa ausgerufen. Es lebe der Weltuntergang!
 
Der französische Liberale Pascal Canfin, der die Resolution einbrachte, betrat wie ein Erlöser den Plenarsaal:
Dass Europa als erster Kontinent den Klimanotstand erklärt, sendet eine starke Nachricht an die Bürger und den Rest der Welt.”
Der Notstand ist der kleine Bruder des Autoritären, merkten einige wenige Abgeordnete an. Aber da loderte schon das Feuer des Furors durch die Reihen. Das Haus stand in Flammen und als erstes Opfer wurde das historische Gedächtnis gelöscht. Die ständigen Notverordnungen der Weimarer Republik, die nach und nach die Bürgerrechte außer Kraft setzten, waren der rote Teppich auf dem Adolf Hitler schließlich in Richtung Diktatur marschierte.
 
Die europäischen Abgeordneten aber wollen jetzt nicht geschichtsbewusst oder auch nur vernünftig sein. Zwei Forderungen sind laut des Parlamentsbeschlusses unverzüglich zu vollziehen, um das Überleben der Menschheit zu sichern:
 
► Die EU-Kommission soll radikale Maßnahmen gegen den Klimawandel ergreifen. Das Ziel ist die Dekarbonisierung Europas, ohne Rücksicht auf den industriellen Kern. Oberste Priorität: Die Erderwärmung auf unter 1,5 Grad zu drücken.
 
► Die neue EU-Präsidentin Ursula von der Leyen muss laut dieser Resolution ihre gesamte Arbeit auf dieses Ziel ausrichten. Die anderen großen Vorhaben der EU – als da wären die Bekämpfung der Armut, das Lösen der Flüchtlingsfrage oder der Aufbau einer Gegenmacht zu Amerika und China – haben in der Stunde des Notstands beiseitezustehen. Der Parlamentarier als Weltenretter. 
 
► Die Abgeordneten sprachen sich ebenfalls dafür aus, dem EU-Parlament nur noch einen Sitzungsort zu gestatten, um das Pendeln zwischen Brüssel und Straßburg zu beenden. Die Reise-Scham hat die Abgeordneten befallen.
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Das ist Politik für die Presse, aber nicht für das Volk. Die jüngst veröffentlichte Studie „Eupinions“ der Bertelsmann-Stiftung zeichnet das Bild einer europäischen Gesellschaft, die ihren Vertretern überlegen ist, weil sie differenzieren kann, weil sie Komplexität aushält und real existierende Gefahren wie den Klimawandel nicht leugnet, aber eben auch nicht überzeichnet.
 
► Für 40 Prozent der mehr als 12.100 befragten EU-Bürger genießt der Umweltschutz hohe Priorität. 60 Prozent setzen andere Schwerpunkte. Sie sorgen sich zum Beispiel um den Erhalt ihrer Arbeitsplätze und die soziale Sicherheit.
 
► Gefragt nach ihren persönlichen Sorgen, stehen steigende Lebenshaltungskosten mit 51 Prozent europaweit an oberster Stelle.
 
► Deutschland ist zwar das Epizentrum der Klimaschutzbewegung, aber selbst hierzulande setzt eine knappe Mehrheit der Menschen andere Prioritäten.
 
► Überall dort, wo handfeste Existenzsorgen die Menschen quälen, rutscht die Klimafrage unverzüglich auf die hinteren Plätze. In Italien beispielsweise liegt das Thema Jobs mit 60 Prozent auf Platz eins.
 
Fazit: 22 Jahre nach dem Kyoto-Protokoll, 13 Jahre nach Al Gores Dokumentation „Eine unbequeme Wahrheit“ und vier Jahre nach dem Klimaabkommen von Paris schaltet das EU-Parlament auf Alarmstufe Rot. Europa hat als dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus den Alarmismus entdeckt. Oder wie Dieter Nuhr gestern Abend bei der Aufzeichnung seiner TV-Show sagte: Titanic ist offenbar nicht nur ein Schiff, sondern auch eine Regierungsform.
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Sieben Wörter und drei Emojis reichen aus, um zu verdeutlichen, welche Ausmaße der Hype ums Klima annehmen kann. Am Mittwoch twitterte Radio Eins, ein Sender des Rundfunks Berlin-Brandenburg (RBB), folgende Nachricht:
 
 „Für jeden Retweet pflanzen wir einen Baum! 🌳🌳🌳“
 
Es kam, wie es kommen musste: Der Tweet verbreitete sich in Windeseile, erst auf Twitter, dann auch im übrigen Internet. Aktueller Stand an Retweets heute Morgen: 54.112. Der öffentlich-rechtliche Sender wird damit zur Baumschule. Der Gebührenzahler finanziert neben dem Programm künftig womöglich noch einen Wald.
 
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Die Bundesrepublik wird mehr Geld zur Finanzierung des Nato-Hauptquartiers und seiner Zweigstellen aufbringen. Das Gesamtbudget beträgt 2,12 Milliarden Euro, wovon der deutsche Anteil jetzt von 14,8 Prozent auf 16,35 Prozent steigen wird. Das bedeutet zusätzliche Kosten von 33 Millionen Euro.
 
Der Anteil der USA dagegen sinkt um 120 Millionen Euro. Statt der bisherigen 22,1 Prozent am Budget der Nato-Verwaltung werden die Vereinigten Staaten zukünftig einen genauso hohen Anteil tragen wie Deutschland. Die „Amerika-zuerst-Politik“ wirkt - in Deutschland den Kassenbestand mindernd.
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In Frankreich übrigens nicht. Denn Emmanuel Macron will keinen Cent zusätzlich überweisen. Am kommenden Dienstag reist er zum Nato-Gipfel nach London, um die übrigen Partner aufzumischen.
 
Nach seinem ersten Warnschuss im „Economist“-Interview, als er der Nato den „Hirntod“ bescheinigte, legte er gestern im Beisein von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg nach:
 
► Macron forderte ein neues Feindbild und eine Revision des Bisherigen: „Gegen wen, gegen was verteidigen wir uns, gegen Russland, China? Das glaube ich nicht.“
 
► Macron will die Nato mit Russland versöhnen. Nicht Kampf und Ausgrenzung, sondern ein „robuster und fordernder Dialog mit Russland“ sei nötig.
 
► An der Neuverteilung der Kosten für das Nato-Hauptquartier will er sich anders als die Deutschen nicht beteiligen: „Wer die Kostenaufteilung ändern will, soll am Montag zur Trauerfeier für die 13 in Mali gefallenen französischen Soldaten kommen und sehen, was der Kampf gegen den Terror kostet.“
 
Das Nato-Treffen in London dürfte zu einem der turbulenteren in der 70-jährigen Geschichte des Verteidigungsbündnisses werden. Macron sucht die Profilierung im Streit. Seine Devise: Wer keine Feinde hat, hat keinen Charakter.
 
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Der Deutsche Bundestag verabschiedet heute mit 362 Milliarden Euro einen neuen Bundeshaushalt. Im Morning Briefing Podcast , spricht „Welt”-Vize Robin Alexander mit einem Mann, der im Prozess der Haushaltsfindung eine entscheidende Rolle spielt: Johannes Kahrs.
 
Der sitzt für die SPD im Haushaltsausschuss und erklärt im Gespräch, warum er die von Merkel und AKK den Amerikanern versprochene Anhebung des Wehretats auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für „gehobenes Bullshit-Bingo“ hält:
Keiner der Beteiligten wird 2030 aktiv Politik machen.”
 
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Frieden schaffen ohne Waffen, ist nicht die Parole von Karl Jüsten, dem Leiter des Kommissariats der deutschen Bischöfe in Berlin. Der „Lobbyist Gottes“ (Cicero) stellt in wenigen Tagen den traditionellen Rüstungsexportbericht vor, den die katholische und die evangelische Kirche gemeinsam erarbeitet haben.
 
Ob Unterstützung in Mali oder Syrien, die Lieferung von Waffen sei grundsätzlich mit den Prinzipien der Kirchen vereinbar, so Jüsten im Podcast-Gespräch . Auch Exportgeschäfte mit Saudi-Arabien lehnt der Priester nicht rundweg ab:
Es gibt berechtigte Interessen, dass Saudi-Arabien die Außengrenzen verteidigt, Saudi-Arabien ist ein Partner der westlichen Welt.”
Allerdings: Kein Ja, ohne das Aber:
Wenn Saudi-Arabien seine Waffen einsetzt, um im Sudan den Krieg zu unterstützen, dann sage ich nein.“
Dieses Gespräch löst die Komplexität des Themas Waffenexporte nicht auf, aber es illustriert sie. Die Farbe der Kirche ist im Fall der Rüstungsexporte nicht schwarz und nicht weiß, sondern grau.
 
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Boris Johnsons Plan, aus den Neuwahlen am 12. Dezember gestärkt hervorzugehen, könnte aufgehen. Laut dem Meinungsforschungsinstitut YouGov, das mehr als 100.000 Menschen befragt hat, würden die Torries 359 der 650 Sitze im britischen Unterhaus erhalten. Der Brexit wäre zementiert.
 
Vorsicht ist bei diesen Umfragen geboten: Direkt nach Schließung der Wahllokale im Brexit-Wahlkampf 2016 sah YouGov das Europa-Lager mit 52 Prozent vorn. Zwei Jahre zuvor prognostizierte YouGov die Abspaltung Schottlands.
 
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Die Deutsche Post möchte langsamer werden – und dies als Beitrag zum Klimaschutz verstanden wissen. Neben einem geschrumpften Filialnetz und einem Aus der Montagsauslieferung will sie bei der Politik auch verlängerte Zustellfristen für Briefe durchdrücken. Eine entsprechende Intervention habe der für Briefe und Pakete verantwortliche Konzernvorstand Tobias Meyer im politischen Beirat der Bundesnetzagentur vorgestellt, wie die „FAZ“ in ihrer heutigen Ausgabe berichtet.
 
Müssten nicht mehr (wie bislang vom Postgesetz vorgeschrieben) 80 Prozent der privaten Sendungen am Folgetag zugestellt werden, könne man den innerdeutschen Flugverkehr reduzieren, so das Argument. Wahrscheinlich ist selbst das in Zeiten des Klimanotstandes (siehe oben) noch nicht radikal genug gedacht. Erst die Wiedereinführung der Brieftaube würde den CO2-Footprint der Post spürbar verbessern. Und auf die lästigen Rechnungen in unserem Briefkasten könnten wir ohnehin verzichten - gerne auch Dienstag bis Samstag.
Ich wünsche Ihnen einen ausgeruhten Start in das Wochenende. Morgen früh melde ich mich mit einem Morning Briefing Sonderpodcast, der Ihnen das komplette Gespräch mit dem ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier anbietet. Herzlichst grüßt Sie Ihr
 

Gabor Steingart
Journalist & Buchautor
 
 
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