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09.03.2022
Header Pioneer Briefing 09.03.2022
Guten Morgen ,

die öffentliche Debatte über Putin und seine Invasion kennt nur einen Zustand, den der Empörung. Diese Empörung auf Seiten der Politiker ist doppelt verständlich. Grund eins liegt in den skandalösen Verhältnissen selbst.

  • Putin hat sich über das Völkerrecht erhoben.

  • Er ist bereit, das Menschenrecht auf Unversehrtheit, auf Freiheit, auf Leben unter den Ketten seiner Panzerarmee zu zermalmen.

  • Er stellt die Grenzen und damit die europäische Friedensordnung infrage.

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Wladimir Putin © dpa

Grund zwei der Empörung aber ist ein höchst fragwürdiger: Die politische Klasse – in Washington, in London, in Paris und auch in Berlin – will mit der mittlerweile hundertfach wiederholten Aussage von „Putins Krieg“ und der Klassifizierung des russischen Präsidenten als Mörder, als Irren, als Wahnsinnigen von ihrer Mitverantwortung beim Zustandekommen jener Verhältnisse ablenken, die zu diesem Krieg geführt haben. Es bleibt sein Krieg. Aber es sind auch ihre Verhältnisse.

Verstehen heißt nicht, Verständnis haben. Aber der Regierungspolitiker wird nicht für seine Entrüstungsbereitschaft bezahlt, sondern für seine Fähigkeit, widerstreitende Interessen als solche zu erkennen und für friedlichen Ausgleich zu sorgen. Er ist nicht der Vater, der um das Kind in den Flammen weint. Er ist der Feuerwehrmann auf der Leiter, der das Kind aus den Flammen rettet. Und der gute Politiker ist im besten Falle sogar der Experte für Brandschutz, der bereits im Vorfeld die nötigen Sicherungen einbaut - den Sprinkler und die Alarmanlage. Auf dass die Flammen keine Chance haben.

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Henry Kissinger © dpa

Genau an dieser vorausschauenden Russlandpolitik hat es gefehlt. Als Kronzeuge für das kollektive und fortgesetzte Nichtverstehen der russischen Seite durch das westliche Spitzenpersonal sei hier Henry Kissinger in den Zeugenstand gerufen. Er hatte schon nach der Besetzung der Krim durch die Putin-Armee gewarnt, die Komplexität des russisch-ukrainischen Konflikts zu unterschätzen und zu meinen, man könnte die Ukrainer ohne Konsequenzen für die Machtarchitektur in Europa in den westlichen Block eingemeinden.

Kissinger am 6. März 2014 in der „Washington Post“:

  In der öffentlichen Diskussion über die Ukraine geht es nur um Konfrontation. Viel zu oft wird die ukrainische Frage als Showdown dargestellt: Ob sich die Ukraine dem Osten oder dem Westen anschließt. Doch wenn die Ukraine überleben und gedeihen soll, darf sie nicht der Vorposten der einen Seite gegen die andere sein – sie sollte als Brücke zwischen beiden Seiten fungieren. “

Und dann formulierte er jene Zumutung, die die europäische Seite für sich niemals angenommen hat:

  Der Westen muss verstehen, dass die Ukraine für Russland niemals nur ein fremdes Land sein kann. Die russische Geschichte begann in der sogenannten Kiewer Rus. Von dort aus verbreitete sich die russische Religion. Die Ukraine ist seit Jahrhunderten Teil Russlands und die Geschichte der beiden Länder war schon vorher miteinander verflochten. “

Eine kluge US-Politik, so meinte Kissinger, sollte eine Versöhnung anstreben, auch die zwischen der Ukraine und seinem großen östlichen Nachbarn. Er riet Putin damals ab, seine Armee neuerlich in Marsch zu setzen, weil er diesen Rechtsbruch mit der finalen Isolation bezahlen würde. Und er riet den Amerikanern davon ab, Putin zu verteufeln. Hillary Clinton hatte ihn mit Adolf Hitler verglichen und damit versucht, innenpolitisch zu punkten. Kissinger hält in seinem Aufsatz dagegen:

  Für den Westen ist die Dämonisierung von Wladimir Putin keine Politik, sondern ein Alibi für das Fehlen einer Politik. “

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20. Januar 2012 in Moskau: Henry Kissinger und Wladimir Putin © imago

Putin sei „ein ernstzunehmender Stratege – unter den Prämissen der russischen Geschichte“. Amerikanische Werte und Psychologie zu verstehen, sei allerdings nicht seine Stärke. So wie umgekehrt gelte:

  Das Verständnis der russischen Geschichte und Psychologie war auch nicht die Stärke der US-Politiker. “

Er riet den führenden Politikern aller Seiten, sich wieder auf das Produzieren von Ergebnissen zu konzentrieren, anstatt sich in emotionalen Posen zu ergehen. Natürlich verteidigte Henry Kissinger das Recht der Ukrainer auf ihre eigene staatliche Souveränität. Aber er machte eine wichtige Einschränkung:

  Die Ukraine sollte nicht der Nato beitreten. “

Eine „institutionelle Feindschaft gegenüber Russland“ sei in Anerkennung der Geschichte und der geographischen Nähe unbedingt zu vermeiden. Käme es zu keiner Lösung zwischen der Ukraine und Russland, werde sich „das Abdriften in Richtung Konfrontation beschleunigen“.

Es kam genau so, wie Kissinger es vorhergesagt hatte. Jede Seite versuchte, ihre maximale Position durchzusetzen. Das Publikum erlebte Politik als Pose, und eben nicht als Kunst des Interessenausgleichs. Das Abdriften in die Konfrontation begann.

Putin versteifte sich auf seine Weltsicht. Als ihm niemand mehr zuhörte, sprach er schließlich nur noch mit seinem Geheimdienstchef, seinem Generalstab und ganz ausführlich mit sich selbst. Das Ergebnis ist ein Gewaltausbruch, wie ihn Europa seit dem Jugoslawienkrieg nicht mehr erlebt hat.

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Kriegsschäden in der Ukraine

Der Westen merkte nicht, wie Russlands mächtigster Mann zu driften begann, obwohl dieser Konflikt sich nahezu über eine Dekade aufgebaut hat. Nach der Krim-Besetzung hat man sich empört – und ist dann zur Tagesordnung zurückgekehrt. Einen Geostrategen hat es im Weißen Haus und im Bundeskanzleramt lange nicht mehr gegeben. Trump wusste nicht, wie man das Wort buchstabiert. Angela Merkel dachte nicht vom Ende her, sondern regierte von einem Moment zum nächsten.

Kissinger, der mittlerweile 98 Jahre alt ist und sich zum aktuellen Krieg in Europa noch nicht geäußert hat, war zeitlebens ein Konservativer, aber kein Scharfmacher. Er war flexibel, aber nie beliebig. Er war ein Mann der westlichen Werte, und er war – auch nach der für ihn prägenden Erfahrung des westlichen Scheiterns im Vietnamkrieg – nicht bereit, die Idee der Freiheit mit dem Eifer des Missionars und dann auch mit durchgeladener Pistole zu verbreiten.

Sein Lieblingswort hatte er aus dem Deutschen in das Amerikanische importiert: Realpolitik. Seine Begründung sollte heute über jedem Politiker-Schreibtisch hängen:

  In meinem Leben habe ich vier Kriege erlebt, die mit großem Enthusiasmus und öffentlicher Unterstützung begonnen wurden, von denen wir alle nicht wussten, wie sie enden sollten, und aus drei davon haben wir uns einseitig zurückgezogen. Der Test für die Politik ist, wie sie endet, nicht wie sie beginnt. “

Den gesamten Artikel von Kissinger über die Ukraine können sie hier lesen.

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Dr. Stefanie Babst

Dr. Stefanie Babst hat das Foresight Team der Nato aufgebaut und geleitet. Sie war zu ihrer aktiven Zeit – also bis 2020 – die ranghöchste Frau der Nato in Europa. Mit ihr spreche ich im heutigen Pioneer Briefing Podcast über die Frage, in wessen Hand der Luftraum ist:

  Ich kann mich nur auf sekundäre Quellen beziehen. Aber das, was ich gelesen habe und weiß, ist, dass die Russen seit wenigen Tagen in der Tat die Lufthoheit haben. “

Sie glaubt nicht daran, dass Putin die 2,8-Millionen-Stadt Kiew militärisch einnehmen will:

  Ich denke nicht, dass dies das primäre militärische Ziel Russlands ist. Das wäre mit einem sehr, sehr großen Risiko verbunden. Sie müssten unglaublich viele militärische Kräfte mobilisieren, um eine Stadt von 2,8 Millionen Einwohnern in die Knie zu zwingen. Ich gehe davon aus, dass sich Russland eher darauf konzentrieren wird, die Gebiete östlich des Dnepr militärisch weiter zu erobern und dann auch zu halten. “

Warum sie eine Einmischung der Nato durch die Hintertür für „politisch, aber auch militärisch komplett selbstmörderisch” hält, erklärt sie in der heutigen Ausgabe des Pioneer Briefing Podcasts.

Pioneer Briefing Interview Dr. Babst 09.03.2022
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Heute im Politikteil von The Pioneer:

  • Das Kabinett will kommende Woche den Haushalt 2022 beschließen, doch SPD-Entwicklungsministerin Svenja Schulze hadert mit den Etatvorgaben von FDP-Finanzminister Christian Lindner. Details lesen Sie im Newsletter Hauptstadt Das Briefing.

  • Polen und Ungarn zeigen sich angesichts des Kriegs in der Ukraine von einer ungewohnt flüchtlings-freundlichen Seite. Dies könnte zu neuer Entspannung mit der EU führen, analysiert unsere politische Reporterin Marina Kormbaki.

  • Die CDU hat die Arbeitsgruppen zur Ausarbeitung des neuen Grundsatzprogramms bestimmt. Manche personelle Überraschung ist dabei. Hier lesen Sie die Details.

20220309-image-twitter-mb-Ankita "Let it go"
Amelia © Twitter

In den Bunkern unter der Ukraine bleibt – trotz der oberirdischen Grausamkeiten – die Hoffnung lebendig. Das belegt jetzt ein Video des Mädchens Amelia, das unter den Straßen Kiews das Lied „Let it Go“ aus dem Disney-Film „Die Eiskönigin“ anstimmt. Als sie in ihrer Landessprache zu singen beginnt, kehrt in dem Bunker Stille ein.

Das Lied passt zu dem, was Millionen von Ukrainern in diesen Tagen fühlen. Es geht um Selbstbewusstsein, Mut und um Freiheit:

A kingdom of isolation

And it looks like I'm the queen

Turn away and slam the door

I don't care what they're going to say

Let the storm rage on

The cold never bothered me anyway

It's funny how some distance makes everything seem small

And the fears that once controlled me can't get to me at all

It's time to see what I can do

To test the limits and break through

No right, no wrong, no rules for me

I'm free

Let it go, let it go”

Im englischen Original singt das Lied die amerikanische Musical-Sängerin Idina Menzel. Auf Twitter hat sie für ihren jungen Fan die richtigen Worte gefunden: „We see you. We really, really see you.”

Ich wünsche Ihnen einen hoffnungsvollen Start in den neuen Tag. Es grüßt Sie auf das Herzlichste,

Ihr

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Gabor Steingart
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