Dr. Gerhart Baum vs. Prof. Heinrich August Winkler
 

Gabor Steingart - Das Morning Briefing
10.02.2020
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Guten Morgen ,
das Nachbeben der Thüringer Ereignisse hält an. Im Innersten des Parteienstaates brodelt es: 

► Die CDU der Annegret Kramp-Karrenbauer gleicht einem Vulkan, der auf seinen Ausbruch wartet.

► Über der FDP-Parteizentrale des Christian Lindner geht ein Ascheregen nieder.

► Die tektonischen Platten der Republik sind in Bewegung geraten; östlich der Hauptstadt hat sich ein Faltengebirge namens AfD gebildet, dessen wahre Ausmaße im Gegenwartsnebel nur schwer zu erkennen sind.
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Der große Mann des deutschen Liberalismus, der ehemalige Innenminister Dr. Gerhart Baum, hat „große Sorge um diese Demokratie“. Am vergangenen Donnerstag sagte er im Morning Briefing Podcast :
Ein Hauch von Weimar liegt über der Republik.“
Der nicht minder große Mann der deutschen Geschichtswissenschaft, Professor Heinrich August Winkler, widerspricht nun: „Es ist absurd, ständig den Untergang der Weimarer Republik zu beschwören“, sagte er im Gespräch mit der „Welt am Sonntag“ .
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Doch Winkler hat – in staatsbürgerlicher Absicht – die Brille mit den rosaroten Gleitsichtgläsern aufgesetzt. Er, der bekennende Sozialdemokrat, will uns nicht über Gebühr erschrecken, weshalb er im Ton des Therapeuten mit uns spricht.

Kenner von Winklers OEuvre („Geschichte des Westens“, „Der lange Weg nach Westen”) wissen jedoch um die Gemeinsamkeiten – nicht die zwischen der Gegenwart und der turbulenten Schlussphase von Weimar, als SA und SS marschierten, als Börsenzusammenbruch und Massenarbeitslosigkeit die Deutschen in den Würgegriff nahmen und die NSDAP ab dem Jahr 1932 als stärkste Fraktion im Reichstag das große Wort führte.

Die Gemeinsamkeiten von denen hier die Rede ist, beziehen sich auf die Zeit bis 1928, also auf die Weimarer Jahre, als Deutschland ökonomisch in der Blüte stand, als die NSDAP bei den Reichstagswahlen 1928 nur 2,6 Prozent der Stimmen holte – und dennoch der Virus der Zerstörung bereits im Inneren der Republik wütete. Dazu sechs Beobachtungen:

Erstens. Die parlamentarische Mitte erodiert und die Ränder legen zu. Damals wie heute. Aus den drei Fraktionen, die von 1961 bis 1983 den Bundestag prägten, sind mittlerweile sechs geworden. Die Alternative für Deutschland stellt im Bundestag die größte Oppositionspartei.
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Die Weimarer Republik war mit sechs Fraktionen – dazu kamen einige wenige Abgeordnete kleinerer Parteien – nach dem Ersten Weltkrieg gestartet. Nach der Wahl im Jahr 1930 tummelten sich Abgeordnete von 13 Parteien im Deutschen Reichstag. Deutschland war nur noch bedingt regierungsfähig. So wie heute Thüringen und womöglich bald Berlin.

Zweitens. Bis 1928 herrschte in Deutschland annähernd Vollbeschäftigung – so wie heute. Trotzdem kam es zu Verdüsterung der politischen Stimmung. Der Börsenkapitalismus erwies sich im Zuge der Weltwirtschaftskrise als dysfunktional und bestätigte damit die Vorahnung vieler Bürger.
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Und heute? Die Menschen spüren, dass Deutschland, ein Pionier des Industriezeitalters, beim Sprung in die Digitalökonomie seine globale Spitzenposition nicht wird halten können. Schon heute wächst ein Dienstleistungsprekariat heran.
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Drittens. Die Fremdenfeindlichkeit wuchs damals und wächst heute. In der frühen Weimarer Republik schürten die Reparationszahlungen nach dem verlorenen Weltkrieg den Fremdenhass. Heute wühlt eine überwiegend muslimische und männliche Zuwanderung das Land auf. 450 Grenzübertritte pro Tag entsprechen einem Migrationszuwachs von 160.000 Menschen pro Jahr, der für ökonomische Belastungen und soziale Spannungen sorgt. Aus der homogenen wurde eine multikulturelle Gesellschaft.
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Ohne eine effiziente Integrationspolitik, mit dem Ziel, diese Menschen in den produktiven Kern der Volkswirtschaft zu führen, dürfte es keine politische Entspannung geben. Das rhetorische Regieren reicht einer Mehrheit der Deutschen nicht.

Viertens. Das Führungspersonal der bürgerlichen Parteien wirkt ähnlich überfordert wie die Protagonisten der Weimarer Republik, vorneweg der Zentrums-Politiker und spätere Kanzler Heinrich Brüning. Solange die heutigen Eliten unter sich sind – AKK brillierte auf dem Krönungsparteitag der CDU im Dezember 2018; Lindner beeindruckte mit klugen Reden beim FDP-Dreikönigstreffen – ist ihre Welt in Ordnung.

Aber wehe, sie müssen außerhalb dessen, was die Amerikaner einen „scripted event“ nennen, spontan und instinktiv reagieren. Dann sind die Stimmen wacklig, die Augen gerötet und die Strategie wechselt – siehe Thüringen – mit den Gezeiten der Nordsee. Das bürgerliche Führungsangebot schafft kein Vertrauen. Damals wie heute nicht. Winkler in „Der lange Weg nach Westen” über den Aufstieg Hitlers:
Zur Vorgeschichte gehörte die Erosion des Vertrauens in den demokratischen Staat.“
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Fünftens. Das Vertrauenskapital vor allem der SPD schmilzt schneller als das Eis auf den Polkappen. Die Sozialdemokratie hat sich, wie bereits in der Weimarer Republik, in den höchsten Regierungsämtern verschlissen und ihre Funktion als Schutzmacht der kleinen Leute verloren. Ohne die Spaltung der Linken in Sozialdemokraten und Unabhängige Sozialdemokraten (USPD), ohne die schwache Führungsleistung des SPD-Reichskanzlers Hermann Müller, der mit der Erhöhung des Beitrages zur Arbeitslosenversicherung seine Stammwähler fast schon mutwillig in die Arme der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei trieb, ist der Aufstieg Hitlers nicht zu erklären.

Die Enttäuschung über die Sozialdemokratie und die Erlösungsfantasien, die Hitler in der Arbeiterschaft freisetzte, sind die zwei Seiten der einen Medaille. Winklers Befund zum frühen Weimar: „Gegen die SPD konnte das Reich nicht regiert werden“ verlor bald schon seine Gültigkeit. Und heute? Der Aufstieg der AfD und der Niedergang der SPD bedingen einander.
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Sechstens. Gewalt wird zum Mittel der Politik. Wie in der Weimarer Republik – wo in den frühen 1920er Jahren politische Morde an der Tagesordnung waren – beobachten wir heute erneut eine Welle politisch motivierter Gewalt. Der Mord am Kasseler CDU-Regierungspräsidenten Walter Lübcke im vergangenen Jahr war nur die Spitze des Eisbergs. Es gab Morddrohungen gegen Renate Künast, zerschlagene Scheiben bei Cem Özdemir und zuletzt Schüsse auf das Bürgerbüro des SPD-Bundestagsabgeordneten Karamba Diaby. 2019 gab es insgesamt 1241 politisch motivierte Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger.

Fazit: Die heutige Berliner Republik ist Weimar im Embryonalzustand. Die giftige Leibesfrucht ist nicht geschlüpft, aber wächst heran. In diesen frühen Morgenstunden einer Welt im Werden bewegen wir uns tastend und noch ein bisschen ungläubig voran. Sebastian Haffner, der in der „Geschichte eines Deutschen“ den Alltag der damaligen Veränderung protokollierte, wusste um die Schemenhaftigkeit der Geschichte, die sich dem Zeitzeugen nur ungern offenbart:
Wir kennen nicht das Stück, in dem wir unseren Auftritt haben.“
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was diese woche noch wichtig wird
Sturmtief „Sabine“ hat heute Nacht Deutschland erreicht. Der Deutsche Wetterdienst verzeichnete schwere Sturmböen mit Windgeschwindigkeiten von 90 bis 100 km/h, vereinzelt sogar orkanartige Böen von 100 bis 115 km/h. Die Deutsche Bahn  stellt den Fernverkehr bis mindestens 10 Uhr heute Morgen ein. Auch im Regionalverkehr muss mit Einschränkungen gerechnet werden. Eurowings  stellt den Flugbetrieb für die Dauer des Sturms ein.  

► In Los Angeles ist die 92. Oscar-Verleihung zu Ende gegangen. Der große Überraschungsewinner des Abends ist der Film „Parasite“ von Regisseur Bong Joon Ho. Die Gesellschaftssatire wurde insgesamt vier Mal mit der begehrten Trophäe ausgezeichnet.
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► Die Zahl der Todesopfer durch den Coronavirus beträgt aktuell 910, die Zahl der Infizierten liegt bei über 40.500. An dem Schweren Akuten Atemwegssyndrom (Sars) waren in den Jahren 2002/2003 weltweit 774 Menschen gestorben.

► Um zehn Uhr trifft sich die Landtagsfraktion der Linken in Erfurt, um das weitere Vorgehen zu beraten. Die Linke, die die stärkste Fraktion im Thüringer Landtag stellt, verlangt Garantien von CDU und FDP, bevor sie Bodo Ramelow erneut in eine Ministerpräsidentenwahl im Landtag schickt.

► Der Wahlkampf der US-Demokraten nimmt Fahrt auf. Am Dienstag steht mit der Vorwahl in New Hampshire die nächste wichtige Etappe an. Der aussichtsreichste Kandidat gegen Präsident Donald Trump, Michael Bloomberg, nimmt nicht teil. 

► Die Münchner Sicherheitskonferenz beginnt am Freitag. Sie findet zum 56. Mal statt. Sie gilt inzwischen als wichtigstes Expertentreffen zur Sicherheitspolitik weltweit. Erwartet werden der Republikaner Mitt Romney und die führende Demokratin Nancy Pelosi. Die Trump-Regierung wird mit dem Verteidigungs- und Außenminister vertreten sein. 
 
 
Ich möchte mich bei allen Hörern und Hörerinnen für diese Nr. 1 Position auf das Herzlichste bedanken: Das Morning Briefing ist laut Apple-iTunes-Hitparade vom Freitag der beliebteste täglich erscheinende Podcast für Politik und Wirtschaft.
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www.itunescharts.net
 
Diese von der Webseite  iTunesCharts.net  veröffentlichte Liste zeigte die beliebtesten iTunes-Podcasts - unabhängig von der Thematik. Über die verschiedenen Abspielstationen, von Deezer über Spotify bis zur kostenfreien Morning Briefing App, wurde der Podcast in der vergangenen Woche rund 765.000 mal heruntergeladen. Für Kritik, Lob und Verbesserungsvorschläge ist das Team mehr als offen. Zögern Sie nicht, mir zu schreiben:  
media-pioneer@gaborsteingart.com
 
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Dem gesunden Lebensstil unserer Zeit hat sich als letztes Bollwerk nun auch der Gitarrist der Rolling Stones angeschlossen. Keith Richards, der sich zunächst von der Heroinsucht verabschiedete, nach seinem 60. Geburtstag schließlich auch das Kokain beiseitelegte, gibt im Alter von 76 Jahren das Rauchen auf. Das nennt man altersgerechtes Verhalten. Auch sein Konzertpublikum sehnt sich nicht mehr nach Joint und freier Liebe, sondern nach Smoothie und Sitzkissen.

Ich wünsche Ihnen einen fröhlichen Start in diesen neuen Tag. Es grüßt Sie herzlichst Ihr

Gabor Steingart
Journalist & Buchautor
 
 
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Die neue Folge unseres Podcasts „Wall Street Weekly“ ist jetzt online. Börsen-Reporterin Sophie Schimansky schaut dieses Mal auf das Job-Wunder in den USA.
 
Stelter-Banner
Der Ökonom Dr. Daniel Stelter rechnet in der neuen Folge seines Podcasts „Beyond the Obvious“ mit der „Schwarzen Null“ ab, die für ihn eine „Zukunftsbremse“ ist.
 
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