09.05.2022
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Guten Morgen Stefan Niggemeier,
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so wie der gute Christ nach Rom pilgert, so reist der gute Demokrat in diesen Tagen nach Kiew. Sein Petersplatz heißt Maidan. Nur, dass er hier nicht mit ein paar Fürbitten davon kommt. Der Gott von Kiew ist kein gütiger, sondern ein zürnender Gott. Er kann nur durch üppige Opfergaben besänftigt werden, weshalb das Drei-Gänge-Menü, das Deutschland ihm nun serviert, deutlich großzügiger ausfällt als zunächst geplant: Die 5000 Helme der ersten Kriegstage waren nur ein Gruß aus der Küche, leichte Waffen folgten als Primi Piatti, bevor nun der in der Vorratskammer der Bundeswehr gereifte Gepard als Hauptgericht aufgefahren wird. Zum Dessert serviert der Küchenchef Variationen von humanitärer Hilfe, für all diejenigen, denen die bisherigen Gänge des Menüs nicht gut bekommen sind. Doch auch dieses Aufgebot kann den Kriegsgott in Kiew nicht besänftigen. Er verlangt Umkehr und Sühne von all jenen, die bis vor kurzen sich als Entspannungspolitiker zu erkennen gaben. Ihre Sünden wiegen schwer, weshalb der SPD-Bundespräsident – und Vorsicht: Schröder-Freund – seine Wallfahrt erst nach allerlei Vermittlungs- und Sühnearbeit wird antreten dürfen.
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Frank-Walter Steinmeier und Sergej Lawrow 2016 in Moskau. © dpa
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Man wirft Steinmeier stellvertretend für das Nach-Hitler-Deutschland vor, „den Russen“ nicht schon vorsorglich die Freundschaft gekündigt zu haben. Er hätte es ahnen müssen, spätestens seit der Besetzung der Krim. Seit Grosny. Seit Aleppo. Mit diesen Russen ist kein Frieden zu halten.
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Ortschaft Kafr Hamrah nahe Aleppo, 2019 © dpa
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In Sachen Russenhass – das lässt sich nicht bestreiten – hatte das Hitler-Deutschland der Welt mehr – um nicht zu sagen, das Maximale – zu bieten. Eine der Weisung Nr. 21 vergleichbare „Geheime Kommandosache“, die das vom Reichskanzler postulierte Ziel enthielt, „Sowjetrussland in einem schnellen Feldzug niederzuwerfen“, ist seither nicht mehr verfasst worden. Hitlers „Unternehmen Barbarossa“ scheiterte, aber auch seine Redensarten („Vergiss niemals, dass die Herrscher des heutigen Russland gewöhnliche blutbefleckte Verbrecher sind.“) wurden in der Bonner und später der Berliner Republik nicht weiter verfolgt. Die Zusammenarbeit mit Russland, dem von deutschen Soldaten millionenfach geschändeten Nachbarn, wurde zur neuen deutschen Staatsräson. Aus Rivalen wurden Partner, aus Partnern wurden Freunde, so schien es zumindest. Doch plötzlich gelten die Erfolge der deutschen Ostpolitik – als da wären die internationale Rüstungskontrolle, die Stärkung der Menschenrechte, die deutsch-deutsche Annäherung und schließlich die gewaltfreie Wiedervereinigung – nicht mehr als Erfolge, sondern als Vorbereitung zum Verrat. Auch die wirtschaftlichen Austauschbeziehungen – einst zum „beiderseitigen Vorteil“ verabredet, wie man damals sagte – stehen nun im fahlen Lichte da. Sie haben eben auch Putins Kriegskasse gefüllt. Sie haben, der Terminus vom beiderseitigen Vorteil enthüllt es, ihm und uns zeitgleich genutzt. Anders, aber das nur nebenbei, lassen sich in einer liberalen Wirtschaftsordnung keine Geschäfte machen.
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Wolodymyr Selenskyj traf gestern Bundestagspräsidentin Bärbel Bas © Imago
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Diese nunmehr im Blitzlicht des Krieges vorgenommene Nachbelichtung der jüngeren deutsch-russischen Geschichte speist den Furor des Wolodymyr Selenskyj. Seine Weltsicht – das ist der tiefere Sinn der Pilgerfahrten – soll nun auch die unsrige werden. Wir sollen nicht nur mit ihm in den Krieg ziehen, was wir längst tun und trotz aller Risiken auch tun müssen. Wir sollen mit Hurra in den Krieg ziehen, wogegen sich eine kleiner werdende Koalition der Unwilligen noch sperrt. Denn hier genau liegt der Unterschied. Unterstützt der Westen den Freiheitskampf der Ukrainer – was seine Pflicht ist – oder erklärt er Russland den Krieg, was eine große Torheit wäre? Will er Putins Armee zurückdrängen oder will er ihn selbst erledigen? Will er den begrenzten oder den totalen Krieg? Suspendiert er seine Beziehungen zum Aggressor oder suspendiert er mit einem Federstrich auch die Idee einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit Russland? Das Leben in der politischen Eindimensionalität – das genau lässt sich am Beispiel des Mannes in Kiew studieren – ist medial erfolgversprechender. Die Zutaten sind aus anderen Ländern und Zusammenhängen bekannt: Eine Twitter optimierte Sprache, die öffentliche Rede als Plot Point einer Netflix-Serie und – nicht zu unterschlagen – die konsequente Reduktion von Komplexität.
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Anton Hofreiter © Imago
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Gemäß dieser Lernerfahrung baden nun auch deutsche Parteifunktionäre in der Pfütze der Tagespolitik, die sie selbst als Ozean der Weltgeschichte empfinden. Die Hochstapelei gehört seit jeher zum Handwerkszeug, das medial belohnt wird. Anton Hofreiter weiß, was hier gemeint ist. Er ist ein early adopter; früh schon hatte er von Greta Thunberg auf Carl von Clausewitz umgeschult. Wir lernen: Wer den Schaum früher von links geschlagen hat, schlägt ihn bei Bedarf auch von rechts. Die Fernsehanstalten reagieren euphorisiert auf die allgemeine Überreiztheit und befördern das, was Stefan Zweig einst den „Aufpeitschungsdienst“ nannte. Die Corona-Staffel zog ohnehin nicht mehr so richtig. Nach der Pandemie ist vor dem Weltkrieg, weshalb nun die Gesichtszüge in den TV-Tribunalen, das verstehen alle, die als Statisten im Schultheater ihre Rolle zugewiesen bekamen, ins Grimmig-entschlossene verändert werden müssen.
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Andrij Melnyk spricht zu Beginn des Dinners des 69. Bundespresseballs © dpa
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Das apokalyptische Potenzial wird ausgereizt; Putins Sonderoperation mit einer Serie von Sondersendungen erwidert. Und am Ende jeder Redaktionssitzung stellt sich die choreografisch knifflige Frage: Sitzt der ukrainische Botschafter Melnyk heute leibhaftig im Studio oder wird er wieder nur zugeschaltet? Ansonsten aber legt sich der rote Faden wie eine Schlinge um unseren Hals: Der Putin. Der Krieg. Der Russe. Jeden Tag eine Zeitenwende. Jede Woche eine Zäsur. Nur am Abspann der neuen Reality Soap muss noch gearbeitet werden. Der Deutschen Post AG in Bonn gebührt eine lobende Erwähnung, ist sie doch die große Verliererin. Alle verschicken offene Briefe – und keiner zahlt Porto.
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Antje Vollmer, 2014 © imago
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Antje Vollmer, die ehemalige Bundestags-Vizepräsidentin und promovierte Theologin, ist die letzte bekennende Pazifistin der Grünen. In der Gründergeneration um Petra Kelly war sie in der Mehrheit; heute zählt sie zu einer kleinen Minderheit innerhalb der Partei. Sie gehört zu den Unterzeichnerinnen des Offenen Briefes an Olaf Scholz, in welchem Schriftsteller, Wissenschaftler und Künstler die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine ablehnen. Der baden-württembergische Ministerpräsident und grüne Parteikollege Winfried Kretschmann kritisierte die Autoren scharf, bezeichnete ihre Argumentation in der gestrigen „FAZ am Sonntag” als „arg platt“. Die Intellektuellen hätten sich „schon ein bisschen mehr anstrengen können“.
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Antje Vollmer erwidert im heutigen Podcast:
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Kretschmann ist ja ein großer Hannah Arendt Fan und von ihr könnte er lernen, dass man seine politischen Gegner in der Debatte nicht beleidigen und herabsetzen soll. Das hat sie all ihren Schülern immer streng verboten. Also die Plattheit liegt in jedem Fall auf der Seite von Winfried Kretschmann. Er stellt sich nicht der Sachdebatte, sondern versucht, uns als Naivlinge herabzusetzen. Das ist unfair.
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Einen Auszug dieses Gesprächs über Krieg, Frieden und die Geschichte der Gewalt hören Sie heute Morgen im Pioneer Podcast. Das gesamte 40-minütige Gespräch wartet am Samstag auf Sie.
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Ministerpräsident Daniel Günther nach den ersten Wahlprognosen © dpa
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Erwartungsgemäß hat sich Daniel Günther zum zweiten Mal das Amt des Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein gesichert. Mit 43,5 Prozent der Wählerstimmen – Stand gestern Abend – setzte er sich von seinen Konkurrenten deutlich ab: Die SPD fuhr mit nur 15,9 Prozent ihr historisch schlechtestes Ergebnis in Schleswig-Holstein ein. Spitzenkandidat Thomas Losse-Müller konnte nicht überzeugen. Er war ein Kandidat, aber er war nicht spitze.
Die Grünen hingegen haben deutlich zugelegt: plus 5,1 Prozentpunkte auf 18 Prozent der Wählerstimmen. Im Wahlkampf setzten sie auf Finanzministerin Monika Heinold, die im Duo mit Landtagspräsidentin Aminata Touré um Stimmen warb. Heinold führt in wechselnden Koalitionen seit 10 Jahren das Finanzministerium.
Die FDP ging halbiert aus der Wahl hervor. Der Spitzenkandidat, Wirtschaftsminister und frühere Verlagsmanager Bernd Buchholz holte nur 6,4 Prozent. Vor fünf Jahren kam der damalige Kandidat Wolfgang Kubicki auf 11,5 Prozent. Die Buchholz-Kritiker sagen: Erst hat er Gruner + Jahr ruiniert, jetzt ist die FDP dran.
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Heute im Politikteil von The Pioneer: Die Nord-Grünen stecken in einem strategischen Dilemma, die Nord-SPD denkt bereits an personelle Wechsel. Unser Hauptstadt-Team analysiert die Folgen der Schleswig-Holstein-Wahl für die beiden Ampelparteien hier. Er war der mächtigste Gewerkschafts-Chef in Deutschland. Nach seinem Abschied als Vorsitzender wird Reiner Hoffmann künftig im Team eines ehemaligen SPD-Vorsitzenden arbeiten. Michael Bröcker schreibt hier, für wen. 2023 will FDP-Chef und Bundesfinanzminister Christian Lindner die Schuldenbremse wieder einhalten. Ökonomen halten das für unmöglich, wenn der Bund nicht massiv spart. Der Bund der Steuerzahler hat Vorschläge erarbeitet, wie die Staatsausgaben mit relativ einfachen Mitteln heruntergefahren werden könnten. Rasmus Buchsteiner wertet die Liste für den Hauptstadt-Newsletter hier aus.
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Eine konjunkturelle Situation, in der die Wirtschaft stagniert und nur noch die Preise steigen, nennt man Stagflation. Die beiden Wirtschaftswissenschaftler Prof. Lars Feld von der Uni Freiburg und Prof. Justus Haucap von der Uni Düsseldorf beschäftigen sich in der aktuellen Folge ihres Ökonomie-Briefings Feld & Haucap mit der Gefahr einer verhärteten Stagflation für Deutschland.
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Rockband U2 © Imago
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Friedrich Merz war da, Bundestagspräsidentin Bärbel Bas ist vor Ort. Und sogar ein Teil der irischen Rockband U2 reiste jetzt nach Kiew. Sänger Bono und Gitarrist The Edge veranstalteten auf Einladung des ukrainischen Präsidenten in einer Metrostation ein Konzert – mitsamt Video auf YouTube. Der inzwischen 61-jährige Rockmusiker Bono bedankte sich bei den Zuhörern und drückte sein Mitgefühl aus:
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Die Menschen in der Ukraine kämpfen nicht nur für ihre eigene Freiheit, sie kämpfen für uns alle, die wir die Freiheit lieben. Wir beten, dass sie bald etwas von diesem Frieden genießen können.
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Mit einer Coverversion von Ben E. Kings legendärem Song „Stand by me” – den die beiden Künstler in „Stand by ukraine” verwandelten – wollten die Künstler den Menschen die Hoffnung zurückgeben: When the night has come and the land is dark And the moon is the only light we'll see No, I won't be afraid, no, I won't be afraid Just as long as you stand, stand by me So darling, darling, stand by me Oh, stand by me, oh, stand Stand by me, stand by me If the sky that we look upon should tumble and fall Or the mountains should crumble to the sea I won't cry, I won't cry, no, I won't shed a tear Just as long as you stand, stand by me
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Ich wünsche Ihnen einen hoffnungsvollen Start in die neue Woche. Es grüßt Sie auf das Herzlichste, Ihr
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Gabor Steingart Herausgeber ThePioneer
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