ZEIT ONLINE: In der Politik gibt es ebenfalls verschiedene Prämissen und Interessenvertreter, die miteinander ringen.

Merz: Ja, aber es gibt in der Demokratie politische Instanzen und Entscheidungsmechanismen, die jetzt ihre Wirkungsfähigkeit unter Beweis stellen. Auch der Föderalismus macht uns stärker, weil er einen ständigen Abwägungsprozess zwischen den Akteuren erfordert, was zum Beispiel in Frankreich oder den USA in dieser Form gar nicht stattfindet. Das macht es bei uns komplexer, aber im Ergebnis besser.

ZEIT ONLINE: Warum steigt dann die Unzufriedenheit?

Merz: Die Politik, wenn ich das so pauschal sagen darf, muss der Bevölkerung die Maßstäbe besser vermitteln, anhand derer sie die Entscheidungen trifft. Es muss eine gewisse Kalkulierbarkeit der Entscheidungsabläufe und der weiteren Schritte für die nächsten Monate geben. Es wäre in unserem Föderalismus auch nicht schlecht, wenn eine größere Einheitlichkeit der Entscheidungen zwischen den Bundesländern erkennbar würde und unterschiedliche Entscheidungen sachlich begründet würden. Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Aber ich bin sicher, die Politik kann sie lösen.

ZEIT ONLINE: Was hilft das dem Unternehmer, der Angst um die Existenz hat?

Merz: Auch der Wirtschaft muss man eine Perspektive eröffnen. Also, zum Beispiel der Gastronomie sagen, an dem und dem Datum könnt ihr unter diesen oder jenen Auflagen wieder aufmachen, wenn die Lage bis dahin stabil bleibt.

ZEIT ONLINE: Gerade viele Gastronomen fühlen sich benachteiligt. Die Krise produziert Ungerechtigkeiten. Wie soll die Politik damit umgehen?

Merz: Der Staat muss einfach zugeben und auch sagen: Wir können in dieser Krise nicht allen helfen. Der Staat kann beim besten Willen etwa den ausgefallenen Umsatz nicht erstatten. Er muss Erwartungsmanagement betreiben: Was geht, und was geht nicht? Denn alles, was von den öffentlichen Kassen jetzt ausgegeben wird, muss von nachfolgenden Generationen bezahlt werden.

"Trump macht ja auch nicht alles falsch"

ZEIT ONLINE: Relativiert Corona die Prämissen des politischen Liberalismus? Sie und andere haben jahrelang einen "schlanken Staat" gefordert. Jetzt sind alle froh, dass er stark ist. Auch die Globalisierung und internationale Verflechtung werden spätestens seit Corona neu hinterfragt.

Merz: Ich war immer für einen starken und effizienten Staat, daran hat sich nichts geändert. Aber wir erleben jetzt im Zeitraffer einen Prozess, den wir ohne Corona auf längere Sicht auch erlebt hätten. Ich habe schon vor Corona den Soziologen Andreas Reckwitz zitiert: Wir haben es mit einer Krise des "apertistischen" – so nennt er ihn –, des übertriebenen und die Gesellschaft spaltenden Liberalismus zu tun. Gerade deshalb bleibt die Soziale Marktwirtschaft jedem anderen System überlegen. Und es gibt auch gute Gründe zu sagen: Wir wollen und wir müssen an Globalisierung und Multilateralismus festhalten.

ZEIT ONLINE: Corona hat die Angreifbarkeit der Globalisierung aufgezeigt. Müssen wir an unserem Wirtschaftssystem nichts ändern?

Merz: Die Globalisierung hat ja überhaupt erst den Wohlstand ermöglicht, in dem wir alle heute leben. Aber die Krise zeigt gleichzeitig die Abhängigkeiten und die Verwundbarkeit der Lieferketten unserer Wirtschaft auf. Hier wird es sicherlich Veränderungen geben.

ZEIT ONLINE: Sie haben die USA oft als Vorbild gepriesen. Jetzt kämpfen sie mit Massenarbeitslosigkeit und einem überforderten Gesundheitssystem.

Merz: Dabei habe ich aber auch immer differenziert. Ich habe weder den amerikanischen Arbeitsmarkt als Vorbild genannt noch das amerikanische Bildungs- oder Gesundheitssystem. Ich habe aber mit Blick auf die USA immer wieder mehr Dynamik und Innovationsfreude in Deutschland und vor allem in Europa gefordert. Den Schub in der Digitalisierung zum Beispiel, den Corona jetzt auslöst, den hätten wir eigentlich auch ohne Corona schon lange gebraucht.

ZEIT ONLINE: Wie bewerten Sie das Krisenmanagement von US-Präsident Trump?

Merz: Mir steht es nicht zu, das öffentlich zu bewerten.

ZEIT ONLINE: Immerhin hat Trump früher als die EU die Grenze nach China geschlossen. War das richtig?

Merz: Trump macht ja auch nicht alles falsch. Aber seine politische Rhetorik und sein Verhältnis zur Wahrheit sind natürlich mehr als nur gewöhnungsbedürftig.