Wirtschaft

Top-Ökonom Rogoff im Interview "Das ist wie im Krieg"

Die Staaten müssen jetzt viel Geld ausgeben, fordert Kenneth Rogoff.

Die Staaten müssen jetzt viel Geld ausgeben, fordert Kenneth Rogoff.

(Foto: REUTERS)

Star-Ökonom Kenneth Rogoff hat Finanzkrisen der vergangenen 800 Jahre untersucht. Nun fürchtet er eine Weltwirtschaftskrise wie 1929 - und fordert Regierungen zu gewaltigen Hilfsmaßnahmen auf.

Capital: Auch Harvard hat seine Tore geschlossen, was heißt das für Sie persönlich?

Kenneth Rogoff: Ich bin zu Hause und kann nicht mehr in mein Büro. Alle Studenten wurden aufgefordert, bis zum 15. März den Campus zu verlassen. Nach den Frühjahrsferien, dem "Spring Break", werden wir die Kurse Online machen. Ich zeichne meine Kurse heute noch auf - wie lange das so sein wird, weiß ich wie alle anderen auch nicht.

Haben Sie so etwas schon erlebt?

Nein. Absolut nein.

Alle Ökonomen versuchen derzeit, die Folgen der Corona-Krise zu analysieren und haben große Schwierigkeiten, die Folgen abzuschätzen. Was macht diese Krise so besonders und was erwarten Sie?

Ich bin kein Virologe - aber vom Verlauf der Ansteckung dieser Pandemie hängt alles ab und von der Frage, wann wir einen Impfstoff und ein Medikament bekommen. Das würde dem Virus den Schrecken nehmen und die Menschen würden wieder Vertrauen bekommen. Wenn sie nicht mehr befürchten müssen, ins Krankenhaus an ein Beatmungsgerät zu müssen.

Die gravierenden Folgen für die Wirtschaft sind bereits zu spüren. Was erwarten Sie?

Dieser Schock ist einzigartig und mit keinem seit der Spanischen Grippe 1918/19 vergleichbar. Wir erleben die erste wirklich globale Krise seit der Großen Depression 1929. Auch die Finanzkrise 2008/09 traf ja vor allem die Industrienationen, viele Schwellenländer brachen kurz ein, aber erholten sich schnell. Die Krisen der 80er und 90er trafen vor allem Asien oder die Schwellenländer. Eines sollte uns alle klar sein: Es wird eine tiefe Rezession geben - es gibt nur einen Unterschied.

Welcher Unterschied ist das?

Dieser Schock wurde nicht durch die üblichen Muster hervorgerufen: zu hohe Schulden, unvorsichtige Kreditvergabe, Spekulationsblasen, die in der Regel Finanzkrisen verursachen. Dieser Schock trifft direkt auf die reale Wirtschaft, und zwar auf der Angebots- und Nachfrageseite gleichzeitig.

Angebotsschock heißt: Es fehlen Arbeiter in den Fabriken und Büros und damit Ersatzteile und Waren, weil die Lieferketten durcheinander sind. Wann gab es das zuletzt?

Das letzte Mal gab es einen Angebotsschock in den 1970ern zur Zeit der Ölkrise.

Und damals war es im Grunde "nur" ein Rohstoff, nicht Menschen …

Der Vergleich bezieht sich vor allem auf das Ausmaß. Nur diesmal kommt parallel zu dem Angebotsschock der Nachfrageschock, weil die Nachfrage ebenfalls einbricht - beide wirken zusammen mit einer Naturkatastrophe. Alles mischt sich zusammen: Lieferketten sind gestört, Restaurants, Sportstätten, Theater und Schulen schließen. So etwas haben wir noch nie erlebt. Ökonomen sprechen von einem "sudden stop", wenn blitzartig etwas aufhört oder versiegt. Wenn wir nicht aufpassen, wird diese Krise sehr lange dauern. Die Regierungen müssen jetzt handeln, dann können sie das Schlimmste stoppen.

Viele Regierungen tun das bereits, haben Liquiditätshilfen, Kredite und Notfallfonds zugesagt.

Was bisher angekündigt wurde, auch von Deutschland, ist richtig. Aber das wird nicht reichen. Allein in den USA arbeiten zehn Millionen Menschen in der Gastronomie, da werden viele pleitegehen. Die Schieferölindustrie, die auch gerade geschlachtet wird, beschäftigt ebenfalls Millionen Menschen. Die Finanzbranche wird die Folgen ebenfalls bald spüren.

Was müssen wir noch tun?

Die Notenbanken haben bereits reagiert und die Zinsen gesenkt …

… die Märkte hat das nicht beeindruckt, im Gegenteil.

Niedrige Zinsen besiegen das Virus nicht, wirken aber auf mittlere Sicht. Was ich nur sagen kann: Die Notenbanken werden alle die Zinsen weiter ins Negative senken. Ich habe ja schon früher gefordert, dass die Zinsen bis minus sechs Prozent sinken sollen, um schneller aus Krisen zu kommen. Jetzt aber ist vor allem die Stunde der Fiskalpolitik, wir brauchen massive Ausgaben, sonst wird das enden wie 1929 in der Großen Depression. Wenn wir aber schnell und entschlossen reagieren, wird sich die Wirtschaft schneller erholen. Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass der gesunde Teil der Wirtschaft geschützt wird und nicht dauerhaft Schaden nimmt.

Über welche Summen reden wir?

Um es klar zu sagen: Das ist wie im Krieg. Die USA sollten eine Billion Dollar ausgeben, ohne mit der Wimper zu zucken. Und das ist vermutlich nur der erste Schritt. Die Reaktion in Europa reicht noch nicht aus, das muss angesichts dieser Krise mehr sein. Auch Europa müsste bis zu einer Billion Dollar ausgeben.

Wie genau soll der fiskalische Stimulus sein und wirken? Wenn die Leute ängstlich zu Hause in Quarantäne sitzen, können wir nicht Geld für neue Straßen bereitstellen.

Das stimmt - die Virus-Invasion macht einen Stimulus komplizierter. Einfach die Nachfrage zu stimulieren, reicht nicht. Hier gibt es keine Wunderwaffe. Ich denke, sowohl für die USA und Europa, wir sollten drei Dinge tun: Erstens: massive Ausgaben für den Gesundheitssektor, für Notfalleinrichtungen und so weiter. Wir müssen die gleichen Anstrengungen leisten wie in Kriegszeiten. Unsere Gesellschaft ist auf Millionen Tode nicht vorbereitet. Zweitens müssen wir die Branchen, die nun getroffen sind, schützen. Die Restaurantbesitzer haben keinen Fehler gemacht, die Hoteliers haben keine Fehler gemacht, nicht mal die Fluggesellschaften. Es kann nicht einen Bail-out für alle geben - aber gewaltige finanzielle Unterstützung und Kredite. Und drittens sollten wir Menschen mit geringen Einkommen unterstützen.

Wie? Sollen wir Ihnen direkt Geld geben?

Ja, absolut. Es ist sinnvoll, den Menschen einfach Schecks ausstellen. Jedes politische System ist anders, aber die Leute werden Geld brauchen und man sollte es ihnen geben.

Sie haben mit Ihrer Kollegin Carmen Reinhart ein berühmtes Buch geschrieben, in dem Sie 800 Jahre Finanzkrisen untersuchen - es heißt "Dieses Mal ist alles anders". Ein Fehlschluss, so Ihre These, sei, dass Menschen in Krisen vorschnell erklären, dass diese einzigartig seien. Ist vielleicht dieses Mal wirklich alles anders?

Diese Krise ist eine Montage und Kombination von früheren Krisen. Viele Schwellenländer werden merken, dass sie zu hohe Schulden aufgenommen haben. China wird spüren, dass es ohnehin ein Problem mit seiner Produktivität hat und an Wachstumsdynamik verliert. Es heißt oft, Chinas Wirtschaft brummt. Das tut sie nicht. Die Chinesen werden im kommenden Jahrzehnt weniger wachsen und in diesem Jahr eine unsanfte Landung erleben. Wenn sie Glück haben, landen sie bei zwei Prozent Wachstum, vielleicht werden es auch null werden. China ist überschuldet.

Das ist genau das Problem, dass viele Länder ohnehin schon stark verschuldet sind …

Das stimmt, das ist nicht hilfreich, und deshalb habe ich auch immer gesagt, dass zu hohe Schulden auf Dauer das Wachstum drücken. Länder müssen eben in Krisen in der Lage sein, sich stark zu verschulden. Alle Länder, die tiefe Taschen haben, haben nun die Kapazität, besser aus der Krise zu kommen. Länder wie Deutschland. Ich denke, Deutschland hat mit die besten Möglichkeiten, weil es eine so gute Haushaltsbilanz hat. Ihr könntet euren Schuldenstand …

… der derzeit bei rund 60 Prozent im Verhältnis zur Wirtschaftskraft liegt …

… ohne Probleme verdoppeln. Das wäre nicht das Ende der Welt. Die USA haben zwar hohe Schulden, aber weil der Dollar an den Finanzmärkten so stark ist, könnten sich die USA auch problemlos fünf Billionen Dollar leihen.

Was ist mit Ländern wie Italien?

Italien hat hohe Schulden und wendet heute schon 16 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für das gesetzliches Rentensystem auf - das ist ein Problem. Es muss aber nun ebenfalls sein Defizit ausweiten. Viele Länder haben den fiskalischen Spielraum und sollten ihn nutzen. Dies ist eine Krise, für die man seine ganze Finanzkraft nutzen muss. Es geht jetzt nicht mehr um den Kampf gegen Ungleichheit, sondern darum, dass die Wirtschaft nicht zu tiefe Narben erhält.

Erwarten Sie eine Rückkehr der europäischen Schuldenkrise?

Es erfordert mutige Maßnahmen, das zu verhindern.

Wenn wir das Virus in den kommenden Wochen in den Griff bekommen, könnten die Folgen dann weniger schlimm sein?

Kenneth Rogoff

Kenneth Rogoff lehrt seit 1999 an der Harvard University. Seine erste Professur erhielt er 1989 an der University of California, Berkeley. 1992 ging er nach Princeton. Von 2001 bis 2003 war er Chefökonom des Internationalen Währungsfonds (IWF). Er gilt als Experte für Finanz- und Schuldenkrisen und schrieb viele Bücher, darunter zusammen mit der Ökonomin Carmen Reinhart das Buch "Dieses Mal ist alles anders – Acht Jahrhunderte Finanzkrisen". 2014 schlug Rogoff die Abschaffung des Bargeldes vor.

Natürlich kann ich mich irren. Aber diese Krise hat das Potenzial, dauerhaften, gewaltigen Schaden anzurichten, selbst wenn wir in einem Jahr aus der Krise sind. Das ist, als würde jemand für die Wirtschaft die Pause-Taste drücken. Wir werden, wenn das so weitergeht, Dinge erleben, die wir noch nicht gesehen haben. Etwa immense Preissteigerungen. Die Preise für Lebensmittel könnten um 25 Prozent steigen, das erleben wir gerade in China. Die werden ohnehin Probleme haben. Ich meine, wenn ihre Produktion nun wieder anzieht: Wem wollen sie ihre Waren verkaufen?

Viel wird spekuliert, was diese Krise für die USA, Donald Trump und seine Wiederwahl bedeutet - ihn trifft keine Schuld, aber den Boom der vergangenen Jahre hat er für sich reklamiert, dann hat er die Bedrohung durch das Virus heruntergespielt. Jetzt hat er den Notstand ausgerufen.

Donald Trump war wie ein Reh, das auf die Scheinwerfer eines entgegenkommenden Autos schaut. Diese Krise ist richtig schlimm für ihn.

Mit Kenneth Rogoff sprach Horst von Buttlar, Chefredakteur "Capital".

Quelle: Capital

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