Rolf Hochhuth: Der gewissenhafte Wüterich ist tot

Er scheute keine Skandale, verstand sich als Gewissen von Deutschland und glaubte an die aufklärerische Kraft des Theaters. Nun ist der Autor und Dramatiker Rolf Hochhuth im Alter von 89 Jahren in Berlin gestorben.

Daniele Muscionico
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Rolf Hochhuth, 2011, während eines Interviews in Berlin.

Rolf Hochhuth, 2011, während eines Interviews in Berlin.

Patrick Sinkel / DAPD / Keystone

Es ist nicht allzu lange her, da war er in Berlin noch unüberhörbar unter uns. Rolf Hochhuth, weisses Haar in wirrer Bewegung über einem wutschäumenden Gesicht, knallte die Türen – und stürmte aus dem Saal. Denn so war er als öffentliche Person, seit 1961. Laut und emotional hochfahrend, ein Geist in Aufruf, der persönlich betroffen schien von allem, was um ihn war. Und besonders dort, wo sich seit den sechziger Jahren sein Leben zutrug und seine Welterfolge, im Theater.

Die letzte Causa, bei der er sich als Stellvertreter des deutschen Gewissens ins Spiel brachte, war der geplante Abriss der Berliner Kurfürstendamm-Bühnen, ein Ort, an dem die Hauptstadt Theatergeschichte schrieb. Der Dramatiker hielt vor dem Kulturausschuss Berlins eine Brandrede für deren Erhalt. Und als man ihn bat, in seinen Ausführungen doch bitte zu einem Ende zu kommen – antwortete er mit seinem letzten schlagenden Argument. Er schlug die Tür hinter sich zu.

Poetische Aufklärungswut

Das war konsequent, Hochhuth hatte auch seine Karriere mit einem Knall begonnen. Er war 26 Jahre alt, als er seinen Erstling schrieb, den «Stellvertreter» – eine aus Originalzeugnissen und kühner Imagination gewirkte Geschichtslektion mit aufklärerischem Impetus. Der effektbewusste Jungdramatiker hatte darin die Unverfrorenheit, den historischen Papst Pius XII. als taktierenden Opportunisten darzustellen, der persönlich Mitschuld trug am Tod von Millionen Juden.

Das Buch, lange im Giftschrank des Verlags, 1963 von dem mutigen Erwin Piscator in Berlin auf die Bühne gebracht, war ein Skandal. «Drohen Sie Hitler, eine halbe Milliarde Katholiken zum Protest zu zwingen, wenn er den Massenmord noch fortsetzt!», lässt Hochhuth darin einen (fiktiven) Papstberater sagen, damit der Papst etwas gegen die Deportationen der römischen Juden nach Auschwitz unternähme – die in der Realität im Oktober 1943 buchstäblich unter dessen Fenstern im Vatikan stattfand. Doch der Papst, nach Hochhuth, ist schlicht unfähig, eine menschliche Reaktion zu zeigen.

«Der Stellvertreter» war Hochhuths Durchbruch und gleichzeitig eine Hypothek. Kein anderes Stück Dokumentartheater erreichte später eine derartige internationale Resonanz. Das war kränkend, und der Autor verhielt sich denn auch immer mehr in der Art eines Gekränkten. Er wühlte in der ungeliebten Abraumhalde der (deutschen) Geschichte, sprach von der Würde des Einzelnen in den dunklen Momenten des 20. Jahrhunderts und verhandelte seine Thesen polemisch. Die Kritiker meinten sogar: mit erzählerischem Schwulst.

Pionier des Dokumentartheaters

Dichten, nach dem Moralisten Ibsen, ist Gerichtstag halten – über sein eigenes Ich. Die Bühne des Moralisten Hochhuth war ein Gerichtsstand – für andere. Nach Papst Pius XII. kritisierte er die Position von Winston Churchill im Zweiten Weltkrieg. Dann durchleuchtete er die Rolle früherer Nazi-Richter – was zum Rücktritt des damaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten und früheren Marine-Richters Hans Filbinger führte. Er bezog Stellung zum Gebaren der Deutschen Bank («McKinsey kommt») und kommentierte gallig die Lage von Gesamtdeutschland («Wessis in Weimar»).

Der letzte grosse deutsche Wüterich des Theaters ist nicht mehr. Mit ihm verliert die Bühne einen Moralisten, wie es ihn heute nicht mehr gibt. Doch glücklicherweise ist es ja so: Hochhuths Moralistentheater überlebt, auch wenn die Moral längst eine andere ist. Die Fabelwelt seiner Stücke hat sich geändert, doch der Mensch bleibt der alte, auch im neuen Jahrtausend. In ihm lebt Hochhuth weiter, als einer, der der Gesellschaft nichts zutraute, doch beim Einzelnen alles für möglich hielt.

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