Alles lesen und vor nichts den Geist verschliessen: Für George Steiner gab es keine Zensur, nur Verantwortung für die Literatur – und die Menschen

Warum sprechen wir, warum hassen und lieben wir in der Sprache? Fragen, die den Literaturwissenschafter, Philosophen und Schriftsteller George Steiner ein Leben lang umgetrieben haben. Am Montag ist er 90-jährig gestorben.

Sarah Pines
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Lesen als Akt der Verantwortung gegenüber den Menschen: der Literaturwissenschafter und Philosoph George Steiner.

Lesen als Akt der Verantwortung gegenüber den Menschen: der Literaturwissenschafter und Philosoph George Steiner.

Leonardo Cendamo / Imago

Das Feuer der Hochkultur brennt, wenn auch nicht mehr so flackernd wie einst, es verstreut weiter seine Asche auf unseren Häuptern. Und einige dieser Aschepartikel gehören den Toten von Auschwitz. So oder so ähnlich sah es George Steiner, Literaturwissenschafter, Kritiker, Philosoph, Linguist, Buchautor, für den es kein grösseres Rätsel gab als den Holocaust und, übertragen auf Kunst und Literatur, den von Grausamkeit und Genius zerrissenen Geist.

Wie konnte ein Land, das die europäische Kultur prägte wie kaum ein anderes, gleichzeitig Bach und Buchenwald hervorbringen, hat Steiner gefragt. Wie konnten SS-Männer abends zu Hause Goethe oder Rilke lesen und am nächsten Morgen in den Schlamm hinabsteigen und Menschen töten? Vor allem: Was bedeutet dieses Nebeneinander für den Weg, den die westliche Kultur einschlagen wird? «Even before I began writing», schrieb Steiner einmal, «it seemed to me that the problem of the relations between culture and politics, between human literature and the politics of torture and mass-murder was such as to put in question every aspect of the life of the mind.» Für manche seiner Zeitgenossen war diese Besessenheit – das «brutale Paradox», wie Steiner es nannte – zu viel des Guten, für andere kam sie immer zur rechten Zeit.

Der letzte Renaissancemensch

Geehrt und gefeiert wurde Steiner für das, was A. S. Byatt den Geist des «letzten Renaissancemenschen» nannte, universal, weit, neugierig, mit Interesse an allem und der Fähigkeit über Religion, Malerei, Wissenschaft nonchalant und klug zu sprechen. Vor allem aber sprach Steiner über Literatur, über Brecht, Céline, Simone Veil oder Solschenizyn, wie es der Moralismus der Gegenwart nicht mehr gebietet: Was waren dies für komplexe Persönlichkeiten, wie passten hier abstossend Unmoralisches und feine Schaffenskraft zusammen? Es sind Fragen, die Steiner ohne Scham stellte und an seine Studenten und seine Leser weitergab.

George Steiner wurde 1929 in dem Pariser Vorort Neuilly-sur-Seine geboren. Seine Eltern – der Anwalt und Banker Frederick Georg Steiner und die High-Society-Lady Else Franzos – waren 1922 aus Wien nach Paris gekommen, um dem zunehmenden Antisemitismus zu entfliehen. Steiner wuchs in Paris und später, nach einer zweiten Flucht, diesmal 1940 vor den Nationalsozialisten, in New York auf. Die Familie kam auf dem letzten Schiff, das noch aus Genua ablegte. Er studierte in Chicago, Harvard und Oxford, wo er mit einer Arbeit über die griechische Tragödie promovierte.

Er unterrichtete in Cambridge Literaturwissenschaften, wurde dann Professor in Genf, schrieb ausserdem Literaturkritiken für das prestigeträchtige Magazin «The New Yorker». Dank der Initiative seiner mehrsprachigen Mutter sprach Steiner fliessend Deutsch, Englisch und Französisch, ausserdem Italienisch – all diese Sprachen seien das Flackern in seinem Kopf gewesen, das sein Denken angetrieben habe, sagte Steiner – und die Fragen, die ihn umtrieben: Warum sprechen wir, warum hassen und lieben wir in der Sprache, und wie kann Sprache so gewaltvoll sein?

Das Innenleben eines Monsters

Steiner selber war ein leidenschaftlicher Redner. In Vorlesungen sprach er dramatisch und körperlich ausholend, manchmal durchaus polemisch. Empfindliche Gemüter nannten es streitsüchtig. Für Vorträge machte er sich im Vorfeld – so erinnern sich Zeitgenossen – immer viele kritzelige Notizen, die er dann auf dem Tisch vor sich ignorierte.

Steiner verkörperte etwas, was heute selten ist: Er feierte den aristokratischen Geist der Hochkultur, die Wahrheit und die Schönheit, für die sie stand, und nie die funzelige Fackel des Moralismus, den erhobenen Zeigefinger, die Zensur. Für Steiner gab es keine Zensur, Lesen war Verantwortung der Welt gegenüber. Alles lesen und vor nichts den Geist verschliessen, noch nicht einmal vor Hitler, über den Steiner 1981 die fiktionale und umstrittene Geschichte «The Portage to San Cristobal of A. H.» schrieb. Wie weit solle man literarisch gehen, den Menschen das Innenleben eines Monsters nahezubringen – eine Frage, die in der heutigen Debatte um kulturelle Aneignung, Triggerwarnungen und Political Correctness die Publikation des Textes wohl verhindern würde.

Steiner glaubte an eigenständiges Denken, lehnte Theorien ab, begründete keine Schule, schloss sich keiner intellektuellen Lobby an. Er schrieb mehr als zwei Dutzend Bücher, darunter «Tolstoy or Dostoevsky» (1959), «Language and Silence» (1967), «After Babel» (1975), «Martin Heidegger» (1978), «Antigones» (1984), «Grammatik der Schöpfung» (2001) und «My Unwritten Books» (2009), in dem er diejenigen Bücher beschrieb, die er noch hätte schreiben wollen.

Als Thomas Mann 1938 vor dem Nationalsozialismus floh und nach Los Angeles kam, soll er gesagt haben: «Wo ich bin, ist die deutsche Kultur.» Auf Steiner träfe der Satz «Wo ich bin, ist die Alte Welt» zu, nur dass es ihm weniger um eine ästhetische Haltung, sondern ein Gefühl der Verantwortung ging. Er als Jude hätte in den USA bleiben können, sagte Steiner in Interviews, doch dann, das habe sein Vater ihn gelehrt, hätte dies bedeutet, dass Hitler doch gewonnen hätte. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte Steiner mit seiner Frau, der amerikanischen Historikerin Zara Shakow, in Cambridge. Dort ist er am Montag 90-jährig gestorben.